The Simple Life: Enzo Mari

Anfang September präsentierte designtransfer einen Vortrag des italienischen Designers, Designkritikers, Designlinguisten und – irgendwie paradoxerweise auch – Designverachters Enzo Mari.

In Vorbereitung auf das Event haben wir Seite um Seite über diesen Mann gelesen, über seine Ideen, seine Arbeit, aber hauptsächlich über seine gut dokumentierten Schimpftiraden gegen… nun, so ziemlich gegen alles, soweit wir das feststellen konnten. Umso erstaunlicher fanden wir es, dass sich dann ein vornehmer, älterer Herr händeschüttelnd und Nettigkeiten austauschend durch das Publikum bewegte.

Enzo Mari

Enzo Mari

Der rüstige 79-jährige Enzo Mari studierte ursprünglich Literatur und kam mehr aus Notwendigkeit denn aus eigenem Wunsch zum Design. Doch trotz seiner etwas planlosen Reise hat Mari das europäische Nachkriegsdesign als Designer und Designtheoretiker auf eine unverwechselbare Art geprägt. Das liegt hauptsächlich daran, dass er sich nie aus dem Konzept bringen oder einreden ließ, dass sein Weg eventuell nicht der richtige sei.

Darum ging es auch in seinem Vortrag. In Bezug auf den Markt – eine Institution, die Mari noch nie besonders mochte und auch nie akzeptieren wird – war sein Rat: Man sollte nie Angst vor dem Markt haben oder vor ihm katzbuckeln, sondern den Mut haben, Nein zu sagen und Dinge auf eine andere Art zu tun.

Eine Anmerkung am Rande: Wir geben die Worte Enzo Maris lediglich frei wieder und zitieren ihn nicht, da er seinen Vortrag auf Italienisch hielt, das ins Englische übersetzt wurde. Wir möchten diesen großen Mann nicht falsch zitieren (höchstens falsch frei wiedergeben…).

Die Idee, sein eigenes Ding zu tun und seinen eigenen Weg zu gehen, ist natürlich weder neu noch besonders revolutionär. Viele von uns behaupten das, aber nur eine kleine Minderheit hat tatsächlich den Mut, für ihre Entscheidungen einzustehen und sie öffentlich zu verteidigen.

Neben dem Markt, sind Technik und Technologie Enzo Maris Lieblingsfeinde – besonders in Verbindung mit dem Markt. Er empfiehlt den Studenten als Semesterprojekt, eine Zeit lang auf einem Bauernhof zu arbeiten. Wir sollen die Landwirtschaft mit der Computerkultur vergleichen. Was ist wichtiger? Ohne Bauern, so geht seine Logik weiter, gäbe es auch keine Computer.

(An dieser Stelle könnte man natürlich einen ganz billigen Apple-Witz einbauen, aber wir sind ja hier nicht auf einer Karnevalssitzung in Köln).

Enzo Mari at the UdK Berlin

Enzo Mari bei designtransfer, UdK Berlin

Obwohl wir Enzo Maris Logik in Bezug auf das Übel einer alles verschlingenden, monotonen digitalen Kultur oft folgen und sogar zustimmen können, finden wir seinen Standpunkt schade.

Wir haben hier einen Mann, der in den 1970er Jahren Pläne für Möbel entwarf, die man selbst bauen konnte.

Wir haben hier einen Mann, der ein Repertoire an wirklich wunderbaren Objekten hat, die man mit einem 3D-Drucker oder per Rapid Prototyping herstellen kann.

Wir haben hier einen Designer, der die Banalität der Massenproduktion durchschaut hat; der die Sinnlosigkeit des übermäßigen Konsums bemängelt; der die negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen des Welthandels erkannt hat; der sich danach sehnt, die Ethik des Produktdesigns zu erörtern – es aber nicht kann, da es keine ethische Grundlage dafür gibt.

Wir haben hier einen Mann, dessen Arbeit förmlich „Open Design“ schreit.

Könnte das nicht vielleicht etwas für ihn sein? Wir erklären ihm kurz das Konzept. Er denkt nach. Er versteht es. Er mag es nicht.

Aber, so protestieren wir, Sie haben doch diese Regale entworfen…

Ja, antwortet er, aber das war Teil eines größeren Projekts. Bei einzelnen, schnellen Projekten, ja, wieso nicht. Aber wenn ein Designer für ein oder zwei Jahre an einem größeren Projekt sitzt, muss er auch dafür bezahlt werden.

Aber, werfen wir hoffnungsvoll ein, Computer oder neue Technologien im Allgemeinen sind doch für irgendetwas gut?

Alle Computer sollten explodieren!

Für Enzo Mari dienen Computer einzig der Versklavung des Menschen und als künstliche Stütze, an die wir uns lehnen. Die reale Welt ist hart und beängstigend, sagt er, aber man muss raus gehen, sich ihr stellen, sie herausfordern, sie erobern. Man sollte sicht nicht zuhause in einer virtuellen Welt abschotten; geschützt, aber geistig tot.

Es liegt uns fern, Enzo Mari zu widersprechen. Wir sind uns nicht einmal sicher, ob wir das intellektuell überhaupt könnten. Aber wir glauben, dass sich Enzo Mari durch seine pauschale Ablehnung neuer Technologien selbst die Chance vorenthält, einige der Ziele zu erreichen, auf die er all die Jahre lang hingearbeitet hat. Genau das finden wir schade.

Das wirft natürlich die Frage auf, ob Enzo Maris Abneigung gegen die moderne Technik mit seiner Überzeugung zusammenhängt, stets alles auf seine eigene Art zu tun, unabhängig davon, was die Mehrheit dazu sagt. Wir vermuten das zumindest. Und wir sehen kaum einen Sinn darin, die Frage weiter zu verfolgen. Wenn Enzo Mari das Moderne nicht annehmen möchte, dann muss er das auch nicht. Er hat sich das Recht, es abzulehnen, mehr als verdient. Und vielleicht greift jemand anderes irgendwann seine Theorien auf und überträgt sie auf die moderne Welt, so dass wir alle davon profitieren können.

Enzo Mari in discussion

Enzo Mari beim Gespräch mit dem Publikum

Abgesehen von der Verurteilung moderner Technik und dem Markt, lieferte Enzo Mari in Berlin eine amüsante, nachdenklich stimmende, kontroverse und vor allem unterhaltsame Vorstellung, die Kunst, Kultur, Politik, Gesellschaft und mitunter sogar „das fürchterliche Wort Design“ abdeckte. (Wie gesagt, Enzo Mari ist kein Freund von Design.)

Und seine berühmten Schimpftiraden? Oh ja, auch die gab es. Als er irgendwen oder irgendetwas gerade besonders energisch angeprangert hatte, drehte sich Mari zu seiner Dolmetscherin um und fragte sie, ob sie auch wirklich alles übersetzte. Ja, sagte sie, aber sie würde nicht anfangen zu brüllen! Die Wärme seines Lächelns und das Leuchten in seinen Augen als Reaktion auf ihre Antwort straften die Echtheit seiner Ausbrüche Lügen. Der Mann ist gar nicht grantig oder mürrisch. Er ist nur leidenschaftlich.

In einem ruhigen Moment sahen wir uns im Publikum um und fragten uns, wie viele von ihnen wohl in der Hoffnung gekommen waren, ihn schimpfen und toben zu sehen. Wir vermuten viele. Wir hoffen wenige. Denn im Laufe des Abends sprach Enzo Mari mit einer Weisheit und einer Sicherheit über Design, die man nur durch die jahrzehntelange intensive Interaktion mit Designprozessen, Fachleuten und Ergebnissen erwerben kann.

Man muss nicht mit allem was er sagt übereinstimmen. Man sollte es sich aber zumindest anhören.

Er beendete seinen Vortrag mit einer Frage: Habe ich genug gesagt?

Nein. Aber es ist fraglich, ob ein Mann wie Enzo Mari jemals genug sagen kann.

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