„Einer klaut vom anderen. Die Sitzmöbelindustrie lebt ja vom gegenseitigen Diebstahl.“

Wie viele wissen, laufen wir nicht jedem Trend hinterher. Eigentlich gar keinem. Das haben wir noch nie getan und das werden wir auch nie. Doch andere tun es.

Im Jahre 1964 war der große Trend in Westdeutschland zum Beispiel Ledermöbel – zumindest wenn man dem SPIEGEL Glauben schenken will.

In „Haut und Haare„, einem wunderbaren Artikel, der zugegebenermaßen vielleicht von niemandem gelesen werden sollte, der für Weihnachten einen Barcelona Sessel kaufen möchte, erklärt der unbekannte Spiegel-Autor nicht nur, wie stark der Leder-Trend damals in den westdeutschen Wohnzimmern verbreitet war, sondern er stellt auch die überaus gleichgültige Haltung gegenüber illegalen Kopien dar – und zeigt, wie sich die Zeiten verändert haben.

Er bezieht sich zum Beispiel auf „Die Firma W. Fehlbaum, Weil am Rhein,…“. Soweit wir wissen wurde das Unternehmen 1964 offiziell Vitra genannt, doch der Name wurde offenbar nicht als wichtig oder bekannt genug angesehen, um erwähnt zu werden.

Wie wir bereits in unserem Post „Design for Use, USA“ angemerkt haben, ist die Designermöbelindustrie in der Tat viel jünger als viele von uns glauben. Jung, aber gut entwickelt.

vitra eames lounge chair

Der Eames Lounge Chair der "Firma W. Fehlbaum, Weil am Rhein" ging 1964 scheinbar weg wie warme Semmeln...

In jener Zeit, als die Welt noch schwarz-weiß war, veröffentlichten der SPIEGEL und andere seriöse Zeitungen und Magazine regelmäßig gut recherchierte Hintergrundartikel zur Designermöbelindustrie. In der Tat war im SPIEGEL – und wir werden wirklich nicht von ihm gesponsort, er ist nur ein sehr gutes Beispiel – bis zum Jahr 2000 die Rubrik „Möbel“ regelmäßiger Bestandteil des Kulturteils.

Dann war Schluss damit. Bis vor Kurzem – als das Thema unter dem Stichwort „Design“ zurückkehrte.

Wir wären fast an unseren Cornflakes erstickt als wir gesehen haben, dass sie einen Hintergrundartikel zur Vienna Design Week 2011 veröffentlicht haben. Ein Hintergrundartikel…! Mit Interview…!

Dieser Switch von „Möbel“ zu „Design“ ist charakteristisch für eine Entwicklung, die eigentlich erst 2010 begann als The Guardian den erfahrenen und hochgeschätzten Achitekten und Designjournalisten Justin McGuirk zum „Designkorrespondenten“ ernannte. Eine Entscheidung, die zur Folge hatte, dass andere Blätter aufhorchten und die gelegentlichen Designartikel von der Rubrik „Kunst“ in eine eigene Rubrik schoben.

Und so wurde ein Thema, das ein Jahrzehnt lang allein den Blogs vorbehalten war, auf einmal Mainstream.

Wir begrüßen die Einbringung aller bekannten Blätter in den Designdiskurs. Nicht nur, weil wir hoffen, dass es dabei hilft, jene Scharlatane herauszufiltern, deren modus operandi es ist, Presseberichte und Fotos zu kopieren und auf gute Google Rankings zu hoffen.

Es wäre allerdings eine Schande, wenn jene Journalisten, die für die Mainstream-Presse über Design berichten, den Blick auf den Möbelindustrie-Aspekt verlieren. Denn wir glauben fest daran, dass der Designermöbelindustrie und den Designern, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten wollen, mehr mit einer Presse gedient wäre, die genau analysiert, hinterfragt und kritisiert, als mit der aktuellen, unterwürfigen B2B-Kultur, die Inhalt und Werbung verwechselt.

In diesem Sinne sind wir auch gespannt, wie sich #milanuncut 2012 entwickelt und ob sich der SPIEGEL in die Debatte einbringen wird. Und ja, das ist eine direkte Aufforderung an die Kollegen in Hamburg.

„Haut und Haare“ ist ein „Trend“-Artikel und er ist zugegebenermaßen kein Artikel, der besonders brisante Fragen stellt. Doch durch seinen Stil und seine Haltung erinnert er uns daran, dass Möbeldesignjournalismus mehr sein kann als nur kriecherische Speichelleckerei. Wie viele Blätter würden heute noch das Selbstvertrauen haben, ein Zitat eines modernen Egon Eiermanns zu drucken, der alle Möbeldesigner als Plagiatoren denunziert?

Der Artikel endet mit der für uns herzerwärmenden Nachricht, dass eine Person unser Misstrauen gegenüber Modeerscheinungen teilt und sich dem Ledertrend jener Zeit widersetzte: Der westdeutsche Bundeskanzler Ludwig Erhard bestellte 16 Eames Lobby Chairs für Bonn. In Stoff. Nicht in Leder.

Ludwig Erhard

Ludwig Erhard widersetzte sich den Modetrends der 1960er (Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F015320-0010 / Patzek, Renate / CC-BY-SA)

 

 

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