„Gae Aulenti. Ein kreatives Universum“ im Vitra Design Museum Schaudepot, Weil am Rhein

„Es ist nicht möglich, einen Stil in meinem Werk zu definieren“1, sagte einst die italienische Architektin und Designerin Gae Aulenti. Das Schaudepot des Vitra Design Museums widerspricht ihr da mit der Ausstellung „Gae Aulenti. Ein kreatives Universum“ zwar nicht, gibt allerdings einen Kontext vor, innerhalb dessen man überlegen kann, wie richtig die Designerin mit ihrer Aussage lag.

Gae Aulenti: A Creative Universe, Vitra Design Museum Schaudepot

„Gae Aulenti: Ein kreatives Universum“, Vitra Design Museum Schaudepot

Gaetana „Gae“ Aulenti wurde am 4. Dezember 1927 in Palazzolo dello Stella (Udine) geboren und studierte Architektur am Polytechnikum Mailand, wo sie 1953 ihren Abschluss machte und danach inmitten des wirtschaftlichen Aufschwungs und des Wiederaufbaus im Italien der Nachkriegszeit zu arbeiten begann. Eine Periode, die sich als „miracolo economico“, als Wirtschaftswunder, herausstellte, und in deren Verlauf das einst weitgehend auf Landwirtschaft ausgerichtete Italien zunehmend industrialisiert wurde. Italiens Handel wurde immer globaler und das Land zunehmend zum Inbegriff für hochwertiges zeitgenössisches Produkt- und Industriedesign. Wie wir im Zusammenhang mit der New Yorker Ausstellung „A New Domestic Landscape“des MoMA 1972 festgestellt haben, begannen italienische ArchitektInnen und DesignerInnen aber nicht nur zunehmend die realisierten Gebäude, Stadträume und deren Kontext, sondern auch die Produkte, die sie entwarfen, zu hinterfragen. In den Mittelpunkt rückte die Frage, warum und für wen DesignerInnen Objekte entwarfen.

Auf solche Fragen fand man im weiteren Sinne in Strömungen und Begriffen wie Anti-Design, Radikalismus, Memphis und in der Postmoderne Antworten. Debatten um das „Was, warum und für wen“ wurden regelmäßig und lautstark auf den Seiten italienischer Architekturzeitschriften geführt. Dazu gehörte auch Casabella, für die Gae Aulenti zwischen 1955 und 1965 als mitwirkende Redakteurin unter der Leitung von Ernesto Nathan Rogers, einem führenden Verfechter der sogenannten Neoliberty-Bewegung, tätig war. Neoliberty (eine wahrscheinlich ungenaue Verallgemeinerung) stand im Kontext von Architektur und Design für die Abkehr von vielen Lehren der Zwischenkriegsmoderne, eine Abkehr vom „Razionalismo“ und für die Rückkehr zu historischen Prinzipien, Ansätzen und Ästhetiken. Dazu gehörten formale und dekorative Auffassungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und Vorbilder wie Mackintosh Baronial, Lloyd Wright Prairie oder Berlage Dutch Brick.

1964 wurde Ernesto Nathan Rogers zum Professor am Politechnikum Mailand ernannt. Gae Aulenti blieb bis zu seinem Tod 1969 seine Assistentin. Im selben Zeitraum war sie nicht nur Vizepräsidentin des italienischen Verbandes für Industriedesign (ADI), sondern begann auch, immer größere Aufträge zu übernehmen. Dazu gehörte z.B. die Gestaltung der italienischen Sektion der Triennale 1964 in Mailand, die Gestaltung von Showrooms und Messeständen für Fiat und die Entwicklung der Innenausstattung der Olivetti-Showrooms in Paris und Buenos Aires. Schließlich wurde sie als einzige Frau eingeladen3, eine Installation zur Sektion „Environments“ in der Ausstellung „A New Domestic Landscape“ beizusteuern. Für diesen Anlass realisierte sie einen Wohnraum, der, wenn wir es richtig verstanden haben, dazu bestimmt war, sich zu entwickeln, das heißt, der seine Funktionalität erst durch Gebrauch entwickelte, anstatt mit einer vordefinierten Funktion ausgestattet zu sein. Gae Aulenti selbst merkte dazu im Katalog an: Ein Raum, „der aus Elementen besteht, die so zusammengesetzt sind, dass sie immer ihren ursprünglichen Zweck deutlich machen, dabei aber offen bleiben für eine Bestimmung ihrer zukünftigen Zwecke.“4

Im Laufe der 1970er Jahre beschäftigte sich Gae Aulenti, vor allem in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Luca Ronconi, zunehmend mit Theater- und Bühnenbild, realisierte aber auch zahlreiche Szenografien für die Mailänder Scala, bevor sie schließlich 1980 den Architekturauftrag erhielt, für den sie heute am bekanntesten ist: den Umbau des Gare d’Orsay zum Musée d’Orsay in Paris. Bei diesem Umbau bewahrte sie viel von der ursprünglichen Architektur und den Details und verwandelte durch eine Reihe subtiler und manchmal nur minimaler Eingriffe den Bahnhof des 20. Jahrhunderts in ein Museum des 21. Jahrhunderts. Das Musée d’Orsay markierte in vielerlei Hinsicht auch den internationalen Durchbruch von Gae Aulenti als Architektin. In den folgenden drei Jahrzehnten realisierte sie so unterschiedliche Projekte wie, und unter vielen, vielen anderen, den Umbau des Palau Nacional zum Museu Nacional d’Art de Catalunya in Barcelona, die Restaurierung des Palazzo Grassi in Venedig, den Bau des italienischen Kulturinstituts in Tokio und eine Erweiterung des internationalen Flughafens San Francesco d’Assisi in Perugia. Gae Aulenti starb am 31. Oktober 2012 in Mailand im Alter von 84 Jahren.

Gae Aulenti: A Creative Universe, Vitra Design Museum Schaudepot

„Gae Aulenti. Ein kreatives Universum“, Vitra Design Museum Schaudepot

Gae Aulentis erste Möbelentwürfe wurden im Rahmen der Ausstellung „Nuovi disegni per il mobile italiano“ präsentiert, die im März 1960 im L’Osservatore delle arti industriali in Mailand stattfand. Dabei handelte es sich um eine Schau ganz im Kontext der Neoliberty-Bewegung, die, wie der Ausstellungskatalog anmerkt, nicht als „informativer Bericht über die Arbeit der jüngeren Generationen italienischer Architekten, noch als Manifest einer neuen Tendenz“ konzipiert war. Vielmehr sollte eine Auffassung von Objekten jenseits der „vermeintlich eindeutigen, von Gegensätzen bestimmten Realität, in die Objekte durch die Unterwerfung unter die Funktion-Formen-Logik geraten5 propagiert werden. Im Zentrum standen eine differenzierte, nuancierte Betrachtung von Objekten, Formen und Funktionen, und Werke von etwa 30 überwiegend jungen ArchitektInnen, die, obwohl alle mehr oder weniger AnhängerInnen von Neoliberty waren, später, wie Mathias Listl formuliert, „sehr unterschiedliche Wege“6 gingen. Dazu gehörten unter anderem Giotto Stoppino, Aldo Rossi, Umberto Riva und Donnato d’Urbino.

Im Jahr 1962 wurden die ersten kommerziellen Möbelprojekte von Gae Aulenti vom Hersteller Poltronova herausgebracht: Der Schaukelstuhl Sgarsul und die Stuhl- bzw. Sofareihe Stringa. Dabei handelt es sich um Werke, die weniger Neoliberty sind und die man vielmehr, um die Sache wieder mal zu verallgemeinern, als Neuinterpretationen, Neuvorstellungen von bestehenden Objekten und Prinzipien verstehen kann. Gae Aulenti stand so mit diesen Arbeiten für eine Evolution von Objekten und Prinzipien und damit ganz im Gegensatz zu der Revolution, die viele ihrer italienischen Zeitgenossen Anfang der 1960er Jahre befürworteten und umsetzten. Eine Herangehensweise, die nicht nur in vielerlei Hinsicht auch im Kontext des Umbaus des Musée d’Orsay und zahlreicher anderer Architekturprojekte Aulentis zu erkennen ist, sondern die auch durch ein Möbeldesign verkörpert wurde, das eine Generation früher von einem Edward J. Wormley praktiziert wurde, und die heute regelmäßig durch Werke von z.B.  Konstantin Grcic oder Jasper Morrison verkörpert wird.

Dieser Designansatz wird durch die Stringa-Kollektion und in „Ein kreatives Universum“ durch ein zweisitziges Sofa sehr gut repräsentiert. Dabei handelt es sich um ein Werk, das in vielerlei Hinsicht von den voluminösen Polstern ausgeht, die Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand auf das starre Stahlrohr eines Marcel Breuer oder Mart Stam appliziert haben. Stringa geht jedoch einen Schritt weiter, lockert die Konturen auf und befreit das Objekt aus der dogmatischen Quadratur des Modernismus. Das Sofa bewahrt so eine äußere Formalität und eine unerschütterliche Eleganz, lädt aber genauso positiv zum Faulenzen und Räkeln ein. Dafür sorgen vor allem der tiefe Sitz und die kurze Rückenlehne, die durch die geschwungene Wölbung der Armlehne elegant kontrastiert werden. Auch wenn das Sofa in vielerlei Hinsicht als ein Werk der frühen 1960er Jahre zu erkennen ist, könnte es auch aus dem 19. Jahrhundert, bzw. dem 21. Jahrhundert stammen.

In ähnlicher Weise hat auch der freudig monumentale Schaukelstuhl Sgarsul den Thonet-Bugholzschaukelstülen des späten 19. Jahrhundert einiges zu verdanken. In der Ausstellung führt einen der Blick durch das Schaukelgestell des Sgarsul geradewegs an zahlreichen Werken von Alvar Aalto vorbei. Hier versteht man, dass Sgarsuls unbeschwerter, klar artikulierter formaler Ausdruck eine Mischform aus der Grammatik von Thonet und Aalto ist. Das Vokabular wurde mit einem Hauch von Adolf Loos bereichert; nicht unpassend, wenn man bedenkt, dass Loos ein weiterer Verfechter der Evolution und nicht der Revolution war. Bei ihm hat Aulenti unverkennbar die großen Polsterrollen des immer wieder unverschämten Liegestuhls namens Knieschwimmer von 1906 entlehnt. Gleichzeitig wird das Werk in die soziale und kulturelle Atmosphäre der 1960er Jahre versetzt, indem die klassische Polsterung des Knieschwimmers und das Rohrgeflecht des Thonet-Schaukelstuhls durch eine freihängende Matte ersetzt werden.

Dieser informelle Aspekt, der auf die hängemattenartige Konstruktion zurückgeht, kann bei Aulentis Locus Solus Sessel von 1964 noch viel besser nachvollzogen werden.

Sgarsul by Gae Aulenti for Poltronova in dialogue with Alvar Aalto, as seen at Gae Aulenti: A Creative Universe, Vitra Design Museum Schaudepot

Sgarsul von Gae Aulenti für Poltronova im Dialog mit Alvar Aalto, gesehen bei „Gae Aulenti. Ein kreatives Universum“, Vitra Design Museum Schaudepot

Der Sessel Locus Solus ist Teil einer von Poltronova herausgegebenen Sammlung von Gartenmöbeln. Da der Knieschwimmer hier wohl stärker präsent ist als beim Sgarsul, verdankt der Locus Solus Sessel nicht nur Alfred Loos, Thonet und dem Stahlrohr der Zwischenkriegszeit eine Menge, er greift auch Entwicklungen und Weiterentwicklungen des Liegestuhls auf, die beispielsweise schon beim Lido Stuhl von Battista & Gino Giudici aus dem Jahr 1935 nachzuvollziehen sind. Der Lido Stuhl wird so in der Ausstellung auch in der Nähe des Locus Solus präsentiert. Aulenti gelang es mit dem Locus Solus ein viel häuslicheres, zivileres, dabei aber nicht weniger freies und leichtes Objekt zu kreieren. Eine Freiheit und Leichtigkeit, die nicht zuletzt der Pop-Art-Polsterung und dem farbenfrohen Stahlrohr zu verdanken sind.

Für die Indoor-Versionen einiger der Locus Solus Stühle und Tische wurden die Pop-Art-Polsterung und die leuchtend farbigen Stahlrohre von Zanotta durch monochrome Polster und verchromte Rohre ersetzt. Diese Zanotta-Versionen hätten wohl eher die Zustimmung von Adolf Loos gefunden, für uns fehlt ihnen aber die Persönlichkeit der Poltronova-Version.

Auf jeden Fall fehlt ihnen die Ausgelassenheit und der Humor, die beim Locus Solus Sessel durch den reizvollen Knick in den hinteren Beinen verstärkt werden. Ein Knick, der wichtig ist, um die notwendige Stabilität und den erforderlichen Sitzwinkel zu ermöglichen, dabei aber den Eindruck erweckt, dass das Stahlrohrgestell ein wenig zu stramm sitzt. Genau diese Ausgelassenheit und dieser Humor finden sich regelmäßig, wenn auch nicht durchgehend, in Aulentis Werk.

Das ist nicht überraschend, denn Humor, Überschwang und Charakter sind regelmäßige und wiederkehrende Aspekte des italienischen Designs in den 1960er, 70er und 80er Jahren. Die Ursprünge dieser besonderen Facetten des Nachkriegsdesigns in Italien werden sehr treffend von Ettore Sottsass zusammengefasst: „Als ich jung war, haben wir immer nur von Funktionalismus, Funktionalismus, Funktionalismus gehört. Das ist nicht genug. Design sollte auch sinnlich und aufregend sein.“7 Diese Position weist offensichtliche Parallelen zu den Ansichten der Neoliberty-Bewegung auf. Humor, Überschwang und Charakter wurden allerdings von Gae Aulenti selten so provokativ und so direkt eingesetzt, wie es z.B. bei Ettore Sottsass oder Alessandro Mendini der Fall war. Vielmehr hält sie den Humor im Hintergrund, er wird zu einem viel subtileren Element ihrer Kompositionen, das anstatt eine Aussage zu machen, dazu beiträgt, ihren Werken eine Leichtigkeit zu verleihen und ihre Werke davon abhält, sich selbst übermäßig ernst zu nehmen, sie von jedem Irrglauben an ihre eigene Bedeutsamkeit befreit und es ihnen dadurch ermöglicht, sich in eine Vielzahl von Räumen zu integrieren. Dieser Aspekt spiegelt sich nicht nur in der zu engen Verstrebung des Locus Solus Sessels, sondern zum Beispiel auch in dem Wort TOAST auf der Vorderseite ihres Toasters für Trabo von 1996 wider.

Diese Leichtigkeit, mit der Aulenti Bezüge herstellt, setzte sich in vielerlei Hinsicht auch in ihren Flirts mit dem Surrealismus fort, einem Strang ihres Œuvres, der bei „Ein kreatives Universum“ wohl am besten von Tavolo con ruote für Fontana Arte von 1980 illustriert wird. Dabei handelt es sich um einen Tisch, der inspiriert ist von den Sperrholz-Rollwagen, mit denen die Glasplatten in der Fabrik von Fontana Arte bewegt wurden. Aulenti ersetzte das Sperrholz durch die Glasplatten selbst und schuf so mühelos einen liebenswerten und sehr raffinierten Beistelltisch. Ein Readymade, auf das bis heute in unzähligen Studierendenprojekten Bezug genommen wird, und das Aulenti mit ihrem Tisch Tour von 1993 selbst wieder aufgreifen sollte. Hier ersetzte sie die Rollwagenrollen durch Fahrradräder.

Ein etwas weniger liebenswertes, wenn auch ebenso inspirierendes Readymade-Objekt ist Aulentis Riccio Vase, die 2003 im Rahmen einer langen Zusammenarbeit mit dem Murano-Glashersteller Venini realisiert wurde. Eine Vase, die ihren Namen möglicherweise zu Ehren des Igels Riccio erhielt, aber auch sehr erschreckend an SARS-CoV-2.888 erinnert und eine nicht unpoetische Erinnerung an die Zerbrechlichkeit unseres Planeten darstellt.

Riccio by Gae Aulenti. It may have been innocent enough in 2003, but today......

Riccio von Gae Aulenti. Das mag 2003 ein ganz unschuldiges Objekt gewesen sein, aber heute…

Die Ausstellung „Ein kreatives Universum“ nimmt die BesucherInnen mit auf eine mehr oder weniger chronologische Tour durch Gae Aulentis Produkt-, Beleuchtungs- und Möbeldesignwerk und lädt so nicht nur dazu ein ihr Werk, sondern auch dessen breiteren Kontext besser kennenzulernen. Es geht also vor allem auch um das Zusammenspiel der verschiedenen Galaxien und Sterne, die dieses „kreative Universum“ ausmachen. Viele ihrer Produkt- und Möbeldesignprojekte entstanden im Rahmen von Architektur-, Interieur- und Theateraufträgen, wie z.B. der Sessel 4794 aus spritzgegossenem Polyurethan von Kartell. Ursprünglich wurde der Sessel für die Ausstellungsräume von Fiat entworfen. Wie bei Stringa zelebriert auch der 4794 Sessel die Kunst des Loungings. Der Stuhl Rossini aus Holz und Metall wurde 1984 für Aulentis Bühnenbild für Ronconis Inszenierung von Rossinis Oper „Reise nach Reims“ entworfen und später von Maxalto/B&B Italia übernommen. Die Leuchten King Sun und Pipistrello wurden wiederum für die Olivetti-Ausstellungsräume in Buenos Aires bzw. Paris geschaffen.

Erstere spielt mit den lichtdurchlässigen Eigenschaften von Acrylglas, ein unkompliziertes futuristisches Objekt mit einem Lampenschirm, der im Grunde kein Lampenschirm ist. Letztere, die Leuchte Pipistrello, ist wohl eines der am meisten von Neoliberty geprägten Werke Aulentis. Ähnlich wie Poul Henningsen bei seinen PH Lampen aus den 1920er Jahren eine idealisierte Darstellung historischer Leuchtendesigns in seine Werke einfließen ließ, so ging Aulenti bei  Pipistrello vor. Die Leuchte könnte aus einem früheren Jahrhundert stammen, dann aber wiederum auch definitiv nicht. Sie ist gefährlich Art Déco, aber zu raffiniert, um dieser dekadenten Versuchung zu erliegen. Eine Leuchte, die abgesehen von ihren formalen Reizen auch noch teleskopisch ist: Ursprünglich sollte sie eine Höhe von 64 cm bis 130 cm haben. Heute kann sie von 66 cm auf 86 cm verlängert werden und ermöglicht so den Einsatz in verschiedensten Situationen. Die Pipistrello ist damit ein Werk, das ganz Aulentis Verständnis von Funktionalität entspricht, das alles andere als starr und vorgegeben war. Unser einziges Problem mit der Pipistrello wäre ihr Name. Pipistrello ist italienisch für Fledermaus. Uns erinnert die Leuchte aber vielmehr an das Haupt der Medusa, oder an eine Qualle.

Die Pipistrello bringt uns natürlich zurück zu Riccio. Am besten also zügig weiter im Text…

Pipistrello by Gae Aulenti through Martinelli Luce, as seen at Gae Aulenti: A Creative Universe, Vitra Design Museum Schaudepot

Pipistrello von Gae Aulenti für Martinelli Luce, gesehen bei „Gae Aulenti. Ein kreatives Universum“, Vitra Design Museum Schaudepot

Unter den vielen Highlights der Ausstellung „Ein kreatives Universum“ ist die Bandbreite der ausgestellten Arbeiten ohne Frage das größte. Wir haben um ehrlich zu sein nicht mit einer so vielfältigen und abwechslungsreichen Präsentation gerechnet, die neben Beleuchtung und Möbeln nämlich auch Wohnaccessoires und Dekorationsobjekte umfasst.

Innerhalb dieser Vielfalt zog insbesondere Giova aus dem Jahr 1964 für Fontana Arte unsere Aufmerksamkeit auf sich. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus Leuchte, Leinwand und Skulptur, deren wichtigstes Merkmal in ihrem Maßstab liegt: Sie ist riesig und kann so wohl nur als dominierendes Objekt in einem bestimmten Raum wirken. Das aber nicht in einem bösartig überwältigenden Sinn, denn dafür ist sie viel zu ruhig und reserviert. Patroclo aus dem Jahr 1975 von Artemide ist eine Lampe, die nicht nur nach dem griechischen Krieger und besten Freund von Achilles benannt ist, sondern deren wulstige Form einem muskulösen menschlichen Torso ähnelt. Dieser Torso eines stereotypen griechischen Kriegers steckt aber nicht in der undurchdringlichen Rüstung Achilles, sondern in einem Drahtgeflecht, in das Glas geblasen wird und das dem Werk seinen subtilen Reiz und einen einnehmenden Glanz verleiht, der sich je nach Position zur Lampe wunderbar verändert.

Dann gibt das Objekt Rimorchiatore, das die Kuratoren als eine „Mischung aus Leuchte, Vase und Aschenbecher“ beschreiben. Und welche Wohnung braucht nicht gerade ein solches Multifunktionsobjekt? Wie wir auf dem smow Blog schon oft festgestellt haben, waren Aschenbecher früher ein Genre, das DesignerInnen einfach berücksichtigen und integrieren mussten. Heutzutage ist das natürlich weniger der Fall. Vielleicht könnte Rimorchiatore ja aber als Hybrid aus Lampe, Vase und Telefonladegerät für den Nachttisch neu eingeführt werden? In jedem Fall handelt es sich um ein Werk, dessen sehr bedachte Formen und Volumen einem das Verständnis und die Sorgfalt näherbringen, mit der Aulenti die einzelnen Komponenten einer Komposition ausbalancierte, ohne sie notwendigerweise vollständig miteinander zu verbinden. Dieses Verständnis stand in der Regel nicht für unnachgiebige quadratische Formen, auch wenn die zurückhaltende Monumentalität des Marmortisches Jumbo für Knoll von 1965 deutlich macht, dass Aulenti auch diese Formen verstanden hat.

Patroclo by Gae Aulenti for Artemide, as seen at Gae Aulenti: A Creative Universe, Vitra Design Museum Schaudepot

Patroclo von Gae Aulenti für Artemide, gesehen bei „Gae Aulenti. Ein kreatives Universum“, Vitra Design Museum Schaudepot

„Ein kreatives Universum“ präsentiert neben Aulentis Werken eine Sammlung von Entwürfen, Skizzen und Fotografien sowie Video-Interviews mit Gae Aulenti und bietet so eine kurze, aber informative und lehrreiche deutsch/englische Einführung in die gestalterischen Ansätze und das Verständnis von Gae Aulenti. Es wird deutlich, wie die Designerin dieses Verständnis und diese Ansätze in Objekte übersetzt hat, deren ungetrübter, schlichter Eleganz fast immer eine sehr methodische, detaillierte Entwicklung und Komplexität zugrunde liegt. Vor allem aber verlangt diese Einführung von den AusstellungsbesucherInnen auf eigene Faust weiter zu recherchieren und tiefer in jenes kreative Universum einzutauchen, von dem hier nur ein flüchtiger Ausschnitt angeboten wird.

Diese Untersuchung wird, wie immer im Zusammenhang mit Ausstellungen im Vitra Design Museum Schaudepot durch das Präsentationskonzept des Schaudepots unterstützt: Umgeben von einem Jahrhundert Möbeldesigngeschichte bietet die Ausstellung nicht nur die Möglichkeit, sich dem Werk Gae Aulentis anzunähern, sondern auch Antworten auf die Frage zu finden, wie sich Gae Aulentis Entwürfe, Ansätze und Vorstellungen in den breiteren Kontext des Designs einfügen.

„Gae Aulenti. Ein kreatives Universum“ läuft bis Sonntag, den 18. April im Vitra Design Museum Schaudepot, Charles-Eames-Str. 2, 79576 Weil am Rhein.

Darüber hinaus hat das Vitra Design Museum die Präsentation von „Home Stories: 100 Jahre, 20 visionäre Interieurs“ bis Sonntag, den 28. Februar 2021 verlängert. Die Ausstellung „Typologie: Eine Studie zu Alltagsdingen“ in der Galerie wurde bis zum 21. Januar 2021 verlängert.

Alle Details finden Sie wie immer unter www.design-museum.de. Wenn Sie einen Besuch planen, machen Sie sich bitte im Voraus mit den aktuellen Regeln hinsichtlich Kartenverkauf, Eintritt, Sicherheit und Hygiene vertraut. Und bleiben Sie während Ihres Besuchs verantwortungsbewusst und vor allem neugierig.

1. Carol Vogel, The Aulenti Uproar: Europe’s Controversial Architect, New York Times, 22. November 1987

3. Unter den 12 Installationen, stammten 3 von Kollektiven – Superstudio, Gruppo Strum, Archizoom – zu letzerem gehörte Lucia Bartolini und damit die einzige weitere Frau in der Sektion Environments.

5. Nuovi disegni per il mobile italiano, 14-27th March 1960, Catalogue, quoted in Renato de Fusco, Made in Italy: Storia del design italiano. Nuova edizione, Altralinea, Florence, 2014

6. Mathias Listl, Gegenentwürfe zur Moderne: Paradigmenwechsel in Architektur und Design 1945-1975, Böhlau, Köln, 2014

7. Man findet dieses Zitat überall, aber immer ohne Quelle. Wir sind noch auf der Suche nach seinem Ursprung….

8. 2003, das Jahr in dem Riccio entstand, war das Jahr der ersten SARS Pandemie. Wir behaupten nicht Gae Aulenti habe sich auf einen Corona Virus bezogen, die Ähnlichkeiten sind allerdings nicht zu übersehen.

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