(smow) Blog Designkalender: 1. März 1896 – Louis H. Sullivan prägt den Ausdruck „Form folgt Funktion“

Wir würden sagen, es gibt drei Sätze, die die moderne Architektur und das moderne Design vor allem geprägt haben: „Ornament ist ein Verbrechen“, „Weniger ist mehr“ und „Form folgt Funktion“.

Der erste stammt aus einem Text des österreichischen Architekten Alfred Loos von 1908, „Ornament und Verbrechen“. Der zweite wird meistens mit Ludwig Mies van der Rohe in Verbindung gebracht, obwohl seine Ursprünge viel, viel älter sind. Und der letzte kann in einem Essay des amerikanischen Architekten Louis H. Sullivan, „The Tall Office Building Artistically Considered“ (Die hohen Bürogebäude künstlerisch betrachtet), gefunden werden, das am 1. März 1896 im Lippincott’s Monthly Magazine veröffentlicht wurde.

Am 3. September 1856 als zweites und jüngstes Kind des irischen Migranten Patrick Sullivan und der Schweizer Migrantin Adrienne Sullivan (geborene List) in Boston, Massachusetts geboren, begann Louis Henry/Henri Sullivan 1872, im Alter von 16 Jahren, am Massachusetts Institute of Technology, M.I.T, Architektur zu studieren.2

Mit der unbändigen Ungeduld der Jugend verließ Louis Sullivan das M.I.T. nach einem Jahr mit dem Vorhaben Praxiserfahrungen zu sammeln, bevor er in Paris sein Studium an der Ecole des Beaux Arts beenden wollte. Nach einem Aufenthalt in Philadelphia, wo er im Büro von Furness & Hewitt arbeitete, und einer daran anknüpfenden Zeit bei Major William LeBaron Jenney in Chicago, setzte er im Juli 1874 die Segel in Richtung Frankreich und schrieb sich im Oktober des gleichen Jahres an der Ecole des Beaux Arts ein.

Nach zwei Jahren in Paris wurde Sullivan wieder ungeduldig und kehrte nach Chicago zurück, wo er bleiben musste. 1880 wurde Louis Sullivan bei seinem späteren Geschäftspartner, Dankmar Adler, angestellt und seine ersten Gebäude entstehen. Zu Louis Sullivans bemerkenswertesten Projekten gehören das Union Trust Building und das Wainwright Building in St. Louis, das Auditorium Building Chicago und das Transportation Building für die World’s Columbian Exposition in Chicago 1893, eine Arbeit, die Ralph Marlowe Line in seinem Vorwort zur Ausgabe von „Louis Sullivan, The Autobiography of an Idea“ (Louis Sullivan, Die Autobiografie einer Idee) 1956 als „das Gebäude, das den Beginn moderner Architektur als Bewegung markieren sollte“, beschrieb.

Neben seiner Arbeit als Architekt veröffentlichte Louis Sullivan zahlreiche Texte einschließlich Überlegungen zur Verwendung von Ornamenten in der Architektur, der emotionalen Natur von Bauwerken sowie moderne Architektur im Allgemeinen. Louis H. Sullivan starb am 14. April 1924 in Chicago. In einer Zeit und Stadt also, in der viele seiner Ideen Wirklichkeit wurden.

Louis Sullivan Wainwright Building St. Louis

Das Wainwright Building, St. Louis von Louis Sullivan

Sullivans berühmtester Grundsatz entstand, wie der Titel bereits andeutet, im Rahmen eines Essays, mit dem er seine Position zu einer der brennendsten architektonischen Fragen der Zeit veranschaulichte: Wie groß sollten Bürogebäude gebaut werden?

Steigender Wohlstand und die Industrialisierung des späten 19. Jahrhunderts ließ den Bedarf an Büro-, Laden- und städtischen Wohnflächen steigen. Stahlbeton machte das Bauen immer höherer Gebäude möglich, was eine technische Lösung für das Problem darstellte. Während durch die Entwicklung mechanischer Fahrstühle mit integrierten Sicherheitssystemen zur Vermeidung von Abstürzen des Fahrstuhls auf den Boden solche hohen Gebäude nicht nur immer praktischer wurden, sondern auch immer luftigere Höhen erreichten.

Louis Sullivans Position zu dem Thema brauchte ein oder zwei Jahrzehnte, um die prägnante Formulierung zu erhalten, die wir heute alle kennen, und sein Weg wurde hauptsächlich von drei Männern gelenkt: John Edelmann, Charles Darwin und Monsieur Clopet.

Als er für Major Jenny in Chicago arbeitete, entwickelte Louis Sullivan eine enge Freundschaft mit dem Konstrukteur John Edelmann. Während einer ihrer vielen theoretischen Diskussionen erklärte Edelmann seine Theorie von „unterdrückten Funktionen“. Leider erläuterte Sullivan nie, was Edelman genau darunter verstand, doch es gibt einen allgemeinen Konsens, wonach es so verstanden wird, dass die Form von Gebäuden entsprechend einer architektonischen Tradition definiert ist und dass als Ergebnis daraus, die Funktionalität eines Gebäudes immer seiner Form unterliegt. Wenn der Architekt die innere Organisation und/oder den Grundriss nicht optimieren konnte…

Doch egal wie genau John Edelmann seine Theorie erklärte, sie hatte unmittelbare Auswirkungen auf den jungen Louis Sullivan und, wie er in seiner Biografie – einem Werk, dass er unnötigerweise prahlerisch in der dritten Person verfasste – schrieb, „Louis hatte den Geistesblitz, dass das die wahre Lösung für das Geheimnis hinter dem Schleier der Fassaden sei. Louis war auf eigenartige Weise der Erschütterung durch die unerwartete Explosion eines einzigen Wortes unterworfen; und als das Wort „Funktion“ detonierte, entstand durch das Wort „unterliegen“ eine neue, gewaltige Idee und erhellte seine innere und äußere Welt mit einer Einigkeit. So sah Louis mit Johns Hilfe die äußere und innere Welt deutlicher und die Welt der Männer begann Ähnlichkeit anzunehmen und erhielt Form und Funktion. Aber leider erwies sich, was er für einen gewaltigen Schleier eines Geheimnisses hielt, der vielleicht so plötzlich wie eine Wolke verschwinden konnte, als eine Reihe von hauchzarten Vorhängen, die langsam und Stück für Stück aufgedeckt werden müssten…“3

Diese Aufdeckung begann so richtig in Paris. Vor seiner Aufnahmeprüfung an der Ecole des Beaux Arts stellte Louis Sullivan einen Monsieur Clopet als Mathelehrer an.

Der Legende nach starrte Monsieur Clopet missbilligend auf das Buch, das Louis Sullivan unter seinem Arm trug. „Nun schauen Sie mal“, forderte Monsieur Clopet Sullivan auf und öffnete das Buch an einigen willkürlich gewählten Stellen, „hier gibt es ein Problem mit fünf Ausnahmen oder Sonderfällen; hier eine Theorie, drei Sonderfälle; weitere neun und so weiter und so weiter, eine Folge von Ausnahmen und Sonderfällen. Ich schlage vor, sie werfen das Buch in den Mülleimer, wir werden es hier nicht mehr brauchen: Unsere Ausführungen hier werden so umfassend sein, dass sie KEINE AUSNAHMEN bilden werden!‘ Nach diesen Worten stand Louis wie versteinert da, während es in seinem Gehirn tobte. Sofort hatten die Worte gezündet, eine Vision kam ihm und damit wuchs ein fester Entschluss heran; auf eine augenblickliche Frage folgte eine sofortige Antwort. Die Frage: Wenn man das in der Mathematik machen kann, warum nicht auch in der Architektur? Die Antwort: Man kann und man sollte! Keiner hat das bisher und ich werde es! Es mag ein langer Weg sein; länger und härter als die Trampelpfade durch den Wald von Brown’s Tract. Es mag nun Jahre dauern, bis ich finde, was ich suche, aber ich werde es finden, egal wo und wie, mit oder ohne einem anderen Führer als meinem Talent, meinem Willen und meinem Verstand. Es wird geschehen! Ich werde dafür leben – nichts und niemand wird mich aufhalten.“4

Die Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit, mit der er den Vorgang vorantrieb, kann an einem Kommentar nachvollzogen werden, den er in seiner Biografie zur Gründung von Adler & Sullivan 1881, also sieben Jahre nach dem Treffen mit Monsieur Clopet, machte: „Er konnte jetzt ungestört mit den praktischen Experimenten beginnen, die er schon lange im Kopf hatte und die Architektur schaffen, die zu ihrer Funktion passt – eine realistische Architektur basiert auf gut definierten Nutzungsanforderungen.“5

Ein letzter wichtiger Stein auf dem Weg wurde indirekt von Charles Darwins Galapagos Finken gelegt.

Im November 1859 publizierte Charles Darwin sein Buch „Über die Entstehung der Arten“ und allen Berichten zufolge inspirierte das den jungen Louis Sullivan sehr. Tatsächlich schreibt Sullivan in seiner Biografie, „…in Darwin fand er viel Futter. Die Theorie der Evolution schien überwältigend.“

Wie viel Futter er in Darwin fand, wie gut er sich selbst davon ernährte und wie perfekt es die Lektionen von Monsieur Clopet und John Edelmann ergänzte, kann deutlich in „The Tall Office Building Artistically Considered“ nachgelesen werden:

„Alle Dinge in der Natur haben eine Form, d.h. eine Form, eine äußere Erscheinung, die uns sagt, was sie sind, die sie von uns und untereinander unterscheidet. Unermüdlich drücken diese Formen das innere Leben, die angeborenen Eigenschaften der Tiere, Bäume, Vögel, Fische aus, die sie uns präsentieren; die sind so charakteristisch, so wiedererkennbar, das wir einfach sagen, dass es ’natürlich‘ ist und so sein soll.

[…]

Ob es der schweifende Adler beim Flug oder die offene Apfelblüte, das schuftende Arbeitspferd, der unbekümmerte Schwan, die verzweigte Eiche, der sprudelnde Fluss an seiner Quelle, die vorüberziehenden Wolken, über allem die Sonne ist, die Form folgt immer der Funktion und das ist Gesetz.

Wo sich die Funktion nicht ändert, ändert sich auch die Form nicht.“6

Keine unterdrückten Funktionen. Keine Ausnahmen. Eine Architektur, die zu ihrer Funktion passt.

„Form soll immer der Funktion folgen.“

Heute werden wir aufgrund unserer Erfahrungen mit der Pop Art und der Postmoderne nicht solche klar definierten Konzepte von „Form“ oder „Funktion“ hervorbringen wie es im späten 19. Jahrhundert in Amerika der Fall war; schließlich ist „Form folgt Funkion“ eine zunehmend schwierige Prämisse. Doch trotz unserer zeitgenössischen Probleme mit der Eindeutigkeit der Position bleibt es eine wichtige Überlegung, ein wichtiger Maßstab, wenn man so will, ein günstiger Ausgangspunkt für alle Design- und Architekturprozesse. Und etwas, was einem zu ignorieren freisteht, sollte es sich als notwendig herausstellen.

Was, wie wir sagen würden, genau das ist, was Louis Sullivan gewollt hätte.

Nach letztendlich über zwei Jahrzehnten Überlegungen, die ihn zu „Form folgt Funktion“ führten, ist, was Louis Sullivan eigentlich verstanden hat, dass man, wenn man etwas Neues erreichen will, vorankommen und sich entwickeln will, Konventionen ignorieren muss, man kein „Diktum, keine Tradition, keinen Aberglaube und keine Gewohnheit“7 den Weg versperren lassen darf, man über den Tellerrand schauen muss und etwas schaffen muss, was deinen Ansprüchen, deinen Bedürfnissen, deiner Situation entspricht.

1896 war das Problem für Louis H. Sullivan hohe Bürogebäude. Was ist 2014 deines…?

1. Theoretisch erschien der Artikel in der Ausgabe vom März 1896. Was mit einer kleinen künstlerischen Freiheit zum 1. März 1896 wird. Die Zeitschrift ist jedoch wohl schon einige Tage früher erschienen. 

2. Hugh Morrison „Louis Sullivan. Prophet of Modern Architecture“, W W Norton and Company, 1998

3. Louis H. Sullivan „The Autobiography of an Idea“, Dover Publications Inc., New York, 1956

4. ebd.

5. ebd.

6. Louis H. Sullivan „The tall office building artistically considered“, in Lippincott’s Monthly Magazine, Philadelphia, März 1896.

7. Louis H. Sullivan „The Autobiography of an Idea“, Dover Publications Inc., New York, 1956

8. ebd.

Lippincott's Monthly Magazine March 1896

Lippincott's Monthly Magazine März 1896. Und ja, der Text nach "The Tall Office Building Artistically Considered" ist betitelt mit "The Evolution Of The Wedding Cake" (Die Evolution der Hochzeitstorte)

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