Marta Herford präsentiert: Der entfesselte Blick – Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur

Wir glauben ja alles zu wissen, was man über die Moderne wissen kann. Zumindest sind wir überzeugt, dass wir die wichtigsten Protagonisten und ihre Schlüsselwerke kennen. Aber sind wir mal ehrlich, das ist eigentlich natürlich nicht der Fall. Wir kratzen eher an der Oberfläche der Moderne und kennen nur eine Handvoll der bekanntesten Protagonisten und einige ihrer bekannteren Arbeiten.

Wie wenig die große Mehrheit von uns wirklich von der Moderne versteht, wird derzeit in der Ausstellung „Der entfesselte Blick – Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur“ im Marta Herford Museum in Herford deutlich.

Die Brüder Rasch? – Ja, Genau die!

Der entfesselte Blick Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur Marta Herford

Der entfesselte Blick – Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur im Museum Marta Herford

Heinz Rasch wurde am 15. Februar 1902 geboren und begann 1920 mit dem Architekturstudium in Hannover, bevor er 1922 an die Technische Hochschule Stuttgart wechselte, wo er 1924 graduierte. Sein Bruder Bodo wurde ein Jahr später, am 17. Februar 1903 geboren, begann 1922 Landwirtschaft zu studieren und graduierte 1926 an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim. Die Situation erinnert sehr an Ronan und Erwan Bouroullec: Die Brüder Rasch arbeiteten erstmals 1923 zusammen, als der jüngere Bruder Bodo dem älteren Heinz bei seinem sogenannten „Werkkunst Arche“-Projekt assistierte – im Grunde eine kleine Werkstatt, in der die beiden simple Holzmöbel und Lampenentwürfe entwickelten.

Mit Gründung der Firma „Brüder Rasch. Hochbau, Möbelbau, Werbebau“ in Stuttgart 1926 wurde ihre Arbeit dann professioneller. Es handelte sich um ein Atelier, das sich den Ausstellungsmachern zufolge schnell in einen wichtigen Treffpunkt für die wachsende Stuttgarter Architektur- und Kunstszene jener Zeit entwickelte. Im Jahr 1927 wurden Heinz und Bodo Rasch von Mies van der Rohe und Peter Behrens beauftragt zwei Häuser für die Ausstellung der Weißenhofsiedlung zu möblieren. Während der kommenden drei Jahre entwickelten sie zahlreiche Architektur-, Stadtplanungs- und Designprojekte; Projekte, die, auch wenn sie nicht realisiert wurden, die Brüder nicht nur mit vielen der führenden Protagonisten ihrer Zeit in Kontakt brachten, sondern ihnen auch wegen der weitreichenden Gedanken und Pläne zu einer gewissen Reputation verhalfen.

Außer in den Bereichen Design und Architektur arbeiteten Heinz und Bodo Rasch auch als Autoren und Herausgeber – am nennenswertesten ist dabei die Herausgabe der Arbeiten „Wie Bauen?“ (1927) und „Der Stuhl“ (1928), dem Begleittext zur gleichnamigen Stuttgarter Ausstellung. Im Jahr 1930 zog Heinz Rasch nach Berlin und es kam zu einem Zerwürfnis zwischen den Brüdern, das weitere gemeinsame Projekte ausschloss. So währte die fruchtbare Phase der Kooperation nur wenige Jahre. Nach dem Krieg arbeiteten die beiden unabhängig voneinander in den Bereichen Architektur und Design weiter, wenn auch größtenteils ohne die Zustimmung und öffentliche Anerkennung der 1920er Jahre. Bodo Rasch starb am 27. Dezember 1995, sein Bruder Heinz Rasch ein Jahr später, am 27. November 1996.

Wenn auch als Architekturausstellung angelegt, beginnt „Der entfesselte Blick“ mit einer Untersuchung von Heinz und Bodo Raschs Veröffentlichungen und Designarbeiten. Ein Schwerpunkt kommt dabei ihrer Rolle bei der Entwicklung des Freischwingers zu. Die Freischwinger von Heinz und Bodo Rasch waren in erster Linie ein Resultat ihrer elementaren Forschungen zur Ergonomie des Sitzens und zur optimalen Konstruktion von tragenden Strukturen, die sie seit 1923 ausführten. Die Freischwinger wurden erstmals 1924 produziert, d.h. also ungefähr drei Jahre bevor Mart Stam seinen Kragstuhl lancierte. Doch erreichten sie nie einen Markt, auf dem sie mit ihren Zeitgenossen hätten mithalten können, geschweige denn hätten berühmt werden können.

Man könnte sagen, dass ebenso wie Heinz und Bodo Rasch, auch ihre Freischwinger in der Anonymität versunken sind. Charakteristisch für die Rasch-Freischwinger ist ihr diagonaler Rahmen. Ein Designkonzept und Konstruktionsprinzip, das Axel Bruchhäuser, der Geschäftsführer des deutschen Möbelherstellers Tecta und Gründer des auf Freischwinger spezialisierten Kragstuhlmuseums sowie persönlicher Freund und Geschäftspartner von Heinz Rasch, zufolge erklärt, warum sich die Stühle nie durchsetzten konnten: „Heinz Rasch glaubte, dass sich aufgrund der geometrischen Teilbarkeit eines gewöhnlichen Raumes nur kubische Stühle wie die von Mart Stam durchsetzen könnten; weil sie nämlich diese kubische Form aufgreifen. Das hieße, nur Stühle mit ruhigen vertikalen und horizontalen Linien haben eine Chance, während solche, die diese räumliche Harmonie brechen, nicht gefragt sein werden.“ Schaut man die Geschichte des Möbeldesigns an, kann man sicher nur schwer mit Heinz Raschs Logik argumentieren.

Als ginge es darum, mangelnden Erfolg und Anerkennung für die Freischwingerdesigns noch zu verschlimmern, kommt noch die Ironie der Tatsache hinzu, dass Heinz Rasch Mart Stam einerseits dabei half die Konstruktions- und Stabilitätsprobleme seiner Designs zu lösen und ihn darüber hinaus auch dem Möbelproduzenten L + C Arnold vorstellte, der Heinz Raschs diagonale Freischwinger seit 1924 produziert hatte und der nun Mart Stams Freischwinger für die Ausstellung der Weißenhofsiedlung produzieren sollte. So gesehen war es also Heinz Rasch, der Mart Stams Erfolg ebnete und schließlich seinen eigenen und den Weg seines Bruders blockierte.

Der entfesselte Blick Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur Marta Herford

Zwei Freischwinger, ca. 1926, von Heinz und Bodo Rasch und einer von Heinz Rasch, ca. 1986, (von links nach rechts), gesehen bei Der entfesselte Blick Der – Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur, Marta Herford

Nachdem das Werk der Brüder designgeschichtlich verortet und damit die dominierenden Architektur- und Designauffassungen der späten 1920er Jahre vorgestellt wurden, geht „Der Entfesselte Blick“ zum eigentlichen Fokus, der Architektur der Brüder, über.

Zu diesem Zweck konzentriert sich die Ausstellung auf drei Bereiche der Architektur, in denen die Brüder besonders aktiv waren: luftgefüllte Gebäudehüllen, Container-Architektur und, vielleicht am bedeutendsten, Hängehaus-Konstruktionen. Um die Arbeiten von Heinz und Bodo Rasch von Grund auf zu erklären, präsentiert die Ausstellung Skizzen, Modelle und Fotografien, die prägnant die Schwerpunkte der Architektur und Planungsarbeit der beiden Brüder, ihre Ziele, die Visionen und Prinzipien hinter ihren Arbeiten und die Art, wie die Brüder versuchten diese Visionen zu realisieren, herausstellen. Währenddessen rückt die Ausstellung ihre Forschungen und Projektpläne immer in den Kontext ihrer jeweiligen Zeit.

Nach der Vorstellung der drei zentralen Themen geht die Ausstellung dann dazu über zu erklären, wie andere Architekten im Folgenden begannen viele dieser Ideen zu realisieren. Wenn man so will, werden die Brüder und ihre Arbeit anhand von Konstruktionen erläutert, die von Architekten in späteren Jahren realisiert wurden – immer unter Verwendung von Prinzipien, Techniken oder Ideen, die mit denen von Heinz und Bodo Rasch in Zusammenhang stehen. Beispielsweise wird „Luftgefüllte Gebäudehüllen“ unter anderem anhand von Projekten wie Coop Himmelb(l)aus Wolke 68 und Foster and Partners Air Supported Office illustriert. Die „Hängehaus-Konstruktionen“ werden neben anderen Konstruktionen anhand der Olibetti Türme in Frankfurt von Egon Eiermann erläutert; während „Containerarchitekturen“ beispielweise anhand von Projekten wie Richard Partnerships Inmos Mikroprozessorfabrik und Nicolas Grimshaws neuer Haupttribüne für das Lords Cricket Ground Stadium illustriert wird.

Der entfesselte Blick macht so auf geschickte und sehr kompetente Art und Weise klar, dass sich in fast allen Jahrzehnten seit dem Krieg Spuren der Brüder Rasch finden. Nur kann man von einem direkten Einfluss sprechen? Da bleibt die Ausstellung eher vage. Man bekommt jedoch den Eindruck, dass die Kuratoren einen direkten Einfluss andeuten, auch wenn keine wirklichen Beweise präsentiert werden. Der einzige Beweis ist, dass die Raschs wirklich häufig unter den ersten waren, die an bestimmten Konzepten arbeiteten und nach bestimmten architektonischen Lösungen suchten. Aber ob sich Architekten später wirklich auf sie bezogen haben, weil sie ihre Skizzen gesehen haben …?

Gleichzeitig wird zwar die Rolle der Brüder im Möbeldesign der 1920er Jahre ganz klar umrissen, die Frage, inwieweit Heinz und Bodo Rasch allerdings auch direkten Einfluss auf die Entwicklung der Architektur der 1920er Jahre hatten, bleibt offen. Da die Brüder in engem Kontakt mit Leuten wie Walter Gropius, Erich Mendelsohn, Mies van der Rohe und anderen standen, erscheint es undenkbar, dass es keinen regelmäßigen und offenen Austausch von Ideen und Meinungen gab. Aber inwiefern die Positionen und Ideen, die Heinz und Bodo Rasch in diesem Rahmen zum Ausdruck brachten, tatsächlich Einfluss auf ihre Zeitgenossen hatten, bleibt unbeantwortet. Die Frage sollte aber auch eher denen gestellt werden, die die Arbeiten von Gropius, van der Rohe, Breuer etc. erforschen. Tatsächlich müssten die Archive genau untersucht und potentielle Spuren zurückverfolgt werden.

Was der Ausstellung sehr gut gelingt und worauf auch der künstlerische Leiter des Marta Herford, Roland Nachtigäller, gehofft hatte, ist, neue Aspekte und neue Perspektiven zu liefern und so ein neues Licht auf die Moderne zu werfen. Man vergisst leicht, dass zu einer Epoche wie der Moderne mehr als nur eine Handvoll Leute gehörten, die emsig alles entwarfen, realisierten, malten etc. … Es gab eben auch Leute wie Heinz und Bodo Rasch. Hat man das einmal verstanden, hat man über ihre Arbeiten gestaunt und ihre Visionen realisiert, erscheint einem die Moderne nicht mehr nur als eine facettenreiche und wenig lineare Epoche, es kommen auch Fragen über die Gegenwart auf. Wichtig sind nicht nur jene Gebäude und Möbel, die produziert, gebaut, verkauft und erstellt wurden, sondern auch die Forschung und die Entwicklungsarbeit der unzähligen Heinz und Bodo Raschs. Also Arbeiten, die über ein oder zwei Generationen nicht realisiert wurden und deren Urheber so nicht zu der Anerkennung kamen, die sie verdient hätten.

So wie „Alvar Aalto – Second Nature im Vitra Design Museum“ eine Ausstellung für all jene ist, die Alvar Aalto über seine organisch fließenden Strukturen und das Birkenholz hinaus kennen lernen wollen, oder „Schrill Bizarr Brachial, Das Neue Deutsche Design der 80er Jahre“ im Bröhan Museum Berlin für jene gedacht ist, die deutsches Design des 20. Jahrhunderts jenseits von Bauhaus, Dieter Rams und Egon Eiermann verstehen wollen, so ist „Der entfesselte Blick“ eine Ausstellung für alle, die Architektur abseits der normalerweise unbekümmert als „zeitgenössisch“ akzeptierten „neuen“ Ideen betrachten möchten. D.h. für jene, die verstehen, dass Architekturkonzepte nicht nur Zeit brauchen, um vollständig zu reifen, sondern häufig auch unterschiedliche praktische Stadien durchlaufen müssen, um zu ihrer endgültigen Form zu finden. Es geht bei der Ausstellung also um einen Blick auf die Moderne, der über unser limitiertes, derzeitiges Wissen hinausgeht.

Der entfesselte Blick Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur Marta Herford

Haus am Hang, 1927, von Heinz und Bodo Rasch, gesehen bei: Der entfesselte Blick – Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur, Marta Herford

Worauf „Der entfesselte Blick“ explizit nicht eingeht, ist, wie und warum Heinz und Bodo Rasch derart in Vergessenheit geraten sind. Das liegt wohl daran, dass es darauf keine definitive Antwort gibt. Vielmehr liegen die Gründe in einer Verkettung lose miteinander verbundener, sich negativ auswirkender Umstände: der persönliche Konflikt zwischen den beiden Brüdern, die ökonomische Krise in der Weimarer Republik, der Zweite Weltkrieg, der Mangel an kommerziellem Erfolg ihrer Möbelprojekte, die Tatsache, dass viele ihrer Architekturprojekte erst realisiert werden konnten, als die Technologie auf dem nötigen Stand war, und dass jene Architekten, die erstmals mit den neuen Technologien arbeiteten ebenso in Vergessenheit gerieten wie ihre Erfinder. Zudem sollte man nicht vergessen, dass alle „Vorkriegsarchitekten“ der Moderne erst nach dem Krieg in Amerika Ruhm und Glück fanden: Gropius, Mies van der Rohe, Breuer. Alle, die nicht den Ozean überquerten, erreichten keine breite Öffentlichkeit, jedenfalls nicht so plötzlich und nachhaltig. Und das betrifft Mart Stam, Victor Bourgois, Hans Scharoun – und Heinz und Bodo Rasch.

Allerdings lernt die Welt langsam, aber sicher mehr über die wahre Tiefe und Vielfalt derer, die dabei halfen, die Moderne zu der wichtigen Ära zu machen, die sie heute ist. Es bleibt zu hoffen, dass „Der entfesselte Blick“ dabei hilft, Heinz und Bodo Rasch die Anerkennung zukommen zu lassen, den sie verdient hätten. Oder besser gesagt, ihnen zu ihrem frühen Status zurück zu verhelfen.

Aber haben sich die Brüder selbst verärgert über die mangelnde Anerkennung und ihren geringen Bekanntheitsgrad geäußert? Die Beantwortung dieser Frage überlassen wir Heinz Rasch … In seinem letzten Brief an Axel Bruchhäuser äußerte er sich über den Stand seiner Arbeit in der Geschichte des Möbeldsesigns – und das auf überaus bescheidene, anrührende und eloquente Art und Weise. Wie gesagt, bezieht er sich auf seine Möbeldesigns, aber wir erlauben uns die Freiheit, sein Zitat auf sein gesamtes Oeuvre zu beziehen: „… mit meinen eigenen Modellen hatte ich kein Glück. Ich war aber nie eifersüchtig und lebte grundsätzlich für den Erfolg anderer. Ich denke, das ist die natürliche Pflicht eines Architekten, der sich nur als ein Handwerker versteht.“

„Der entfesselte Blick – Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur“ ist noch bis Sonntag, den 1. Februar, im Marta Herford, Goebenstraße 2–10, 32052 Herford zu sehen.

Alle Details sind unter http://marta-herford.de zu finden.

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