Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg: Jugendstil. Die große Utopie

Niemand mag Hippies.

Und das lässt vielleicht auf die ambivalente Haltung vieler Menschen gegenüber dem Jugendstil schließen.

Denn mit seinen floralen Motiven, visuellen Traumwelten, seinem hoffnungslosen Utopismus und seiner allgegenwärtigen Faszination für Nacktheit ist der Jugendstil auf viele Arten die wahre Hippiebewegung. Diese Assoziation könnte es auch sein, was der führenden internationalen Kunst- und Architekturbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ihren unverkennbar kitschigen Beigeschmack verleiht – ihre mangelnde gegenwärtige, kulturelle Relevanz.

Dem Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg zufolge ist dieses allgemeine Verständnis des Jugendstils allerdings falsch, oder zumindest nicht richtig begründet, und ignoriert viele wichtige Facetten der Bewegung. Diesen Zustand versucht das Museum im Rahmen seiner neuen Ausstellung „Jugendstil. Die große Utopie“ zu korrigieren.

Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg - Art Nouveau

Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg: Jugendstil. Die große Utopie

„In dieser Ausstellung sind wir nicht so sehr am Stilbegriff, sondern an den Beweggründen der Künstler interessiert“, so Kuratorin Dr. Leonie Beiersdorf, „und wir hoffen, durch diese Ausstellung den Besuchern den Hintergrund des Jugendstils erklären zu können, inklusive der gesellschaftlichen Aspekte und der Kritik an der gegenwärtigen Massenproduktion, die darin enthalten ist.“

Zu diesem Zweck zeigt „Jugendstil. Die große Utopie“ Fotos, Bücher und Filme aus der Zeit zusammen mit dekorativen und funktionalen Objekten von Künstlern wie Peter Behrens, William Morris oder Alfons Mucha, die dabei helfen sollen, die Entwicklungsgeschichte der Bewegung zu erläutern. Bekannte Aspekte des Jugendstils, wie Naturparadise, exotische Welten, Mythologie und Nacktheit, aber auch unbekanntere Einflüsse auf die damals junge Bewegung werden gezeigt. Marx hinterfragte Arbeit und Schufterei, Nietzsche das Streben nach Glück, Gauguin brachte uns in ferne Länder, Freud in die Tiefen unserer Seele. „Häufig kann die Motivation der Jugendstilkünstler als Flucht aus der gegenwärtigen Gesellschaft angesehen werden, als Versuche, vor der Industrialisierung der modernen Welt zu fliehen“, so Leonie Beiersdorf. Die Realität, vor der sie geflohen sind, wird in den Bildern der Frauenrechtsbewegung, der Kinderarbeit und der städtischen Armut verdeutlicht.

Als Alternative zu dieser neuen Realität sucht der Jugendstil Trost in neuen Formensprachen der Natur, in einer Rückkehr zum Handwerk und zu nachhaltigem Konsum, in der Konzentration auf seelische und körperliche Gesundheit und in der Nacktheit.

Umstände, die eine ziemlich naheliegende Frage aufwerfen.

Wir fragen: und Drogen?

Leonie Beiersdorf lacht. „Wenn man sich zum Beispiel die Objekte zu Träumen und dem Unbewussten anschaut, dann könnte man das denken. Allerdings haben wir in Bezug auf die Künstler, deren Werke wir hier ausstellen, keine Beweise dafür gefunden, aber ich würde es nicht ausschließen.“

Nietzsche and Nudity. Two pillars of Art Nouveau

Nietzsche und Nacktheit. Zwei Säulen des Jugendstils

„Jugendstil. Die große Utopie“ erinnert uns stark an unseren Besuch in den Ausstellungsräumen des Designmuseum Danmark in Kopenhagen. Es gibt alles, was man will, Fotos, Videos, Möbel, Kleidung, ein hygienisches „Solar“-Lichtbad aus dem Jahr 1911, Glas, Besteck … nur das Leben selbst fehlt.

Was die Ausstellung macht, das macht sie sehr gut, sie bietet eine schöne Einführung in die Entwicklung des Jugendstils und das, ohne den Besucher mit Fluten unverständlicher Informationen zu überschwemmen. Die kurzen, leicht zugänglichen Texte erklären prägnant, was die Kuratoren vermitteln wollen, die Videos unterstützen dies und die historischen Objekte zeigen schön, wie der damalige Zeitgeist in Kunst umgewandelt wurde und zwar pur und angewandt. Dies geschieht besonders effektiv, wenn ein Objekt und ein altes Foto, auf dem dieses Objekt in Gebrauch oder in situ abgebildet ist, nebeneinander angeordnet sind. Und ja, es wäre gerechtfertigt, uns zu fragen, was die Ausstellung denn noch tun sollte. Sollte sie genauso unterhalten, wie informieren? Wir sagen, das sollte sie, oder zumindest sollte sie einen Anschein von Leben erwecken und zeigen, dass sie an unserer Gesellschaft interessiert ist: Aber dass sie informiert, ist das wichtigste. Und das tut sie. Alles andere ist etwas für museologische Vereinbarungen.

A Solar hygienic light bath from 1911, as seen at Art Nouveau The Great Utopian Vision, the Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Ein hygienisches „Solar“-Lichtbad aus dem Jahr 1911, gesehen in der Ausstellung „Jugendstil. Die große Utopie“, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Für das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg ist Jugendstil nicht bloß ein Thema für eine temporäre Ausstellung, sondern gehört zur Basis des Museums. Das Hamburger Museum war eines der ersten Museen, wohl das erste Museum in Europa, das aktiv mehr zeitgenössische, angewandte Kunst als historische Objekte gesammelt hat. Ein Prozess, der um 1900 herum unter Justus Brinckmann, dem Gründungsdirektor des Museums, begann und der auf einer sehr klaren Philosophie basierte. „Justus Brinckmann sagte, dass wir im Hier und Jetzt leben müssen und dass wir uns mit aktuellen Themen beschäftigen müssen“, so Dr. Claudia Banz, Leiterin der Sammlung Kunst & Design. „Bis Brinckmann mit angewandter Kunst begann, schauten Museen eher zurück, dienten als Referenzsammlungen für die Industrie und sammelten so Objekte, die eine historische Relevanz hatten. Als Justus Brinckmann beschloss, zeitgenössische Objekte zu sammeln, begann gerade ein neues Jahrhundert, in vielen Bereichen gab es Umbrüche und vollzog sich ein Wandel und nicht zuletzt gab es auch in der Kunst neue Entwicklungen. So war es für ein Museum für angewandte Kunst sinnvoll, nicht nur Zeitgenössisches zu sammeln, sondern sich auch damit zu beschäftigen, was zeitgenössisch war.“

Damit Besucher diesen Geist der Entwicklung, der Justus Brinckmann inspirierte, besser verstehen konnten, hat das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg seine Dauerausstellung zum Jugendstil kürzlich umgestaltet, inklusive einer Neugestaltung des historischen Pariser Saals des Museums, einer Ausstellungsfläche, auf der Brinckmann einst seine neuesten Errungenschaften von der Pariser Ausstellung zeigte. Weitere Räume der Dauerausstellung zeigen Werke von, unter anderem, Henry van de Velde, Charles Rennie Mackintosh, Richard Riemerschmid, Carlo Bugatti und den unterschiedlichen Künstlern der Wiener Werkstätte.

Außerdem zeigt die neue Dauerausstellung sehr schön, wie dekadent Jugendstil sein konnte: Viele der Objekte weisen ein Level formaler Extravaganz auf, das Ludwig XIV vor Neid erblassen ließe. Das ist einer der Aspekte des Jugendstils, der uns immer amüsiert hat: dieses Nebeneinander von utopischem, demokratischem Denken und der Vorstellung von einer neuen Welt und der egoistischen, privilegierten Materialität der alten Welt. Der Grund für diesen Kontrast liegt zweifellos eher in der banalen Realität der Kunden der Künstler als in irgendeiner Scheinheiligkeit seitens der involvierten Künstler und Architekten. Oder wie William Morris, eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Jugendstils und überzeugter Sozialist, auf die Frage eines Besuchers seiner Werkstatt, was er aktuell so mache, angeblich geantwortet haben soll: „Mit meinem Schweiß baue ich Objekte, die so teuer sind, dass nur der reichste Kapitalist sie sich leisten kann!“1

Designer und Handwerker haben damals wie heute verstanden, dass Rechnungen bezahlt werden müssen und dass Gläubiger selten starke Ideale als Zahlungsmittel akzeptieren, sondern Bargeld vorziehen.

The Pariser Saal, part of the permanent collection at the Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Der Pariser Saal, Teil der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg

Der Jugendstil ebnete schließlich den Weg für das, was wir heute unter Art Déco verstehen, beeinflusste letztendlich direkt die Ideale des internationalen Modernismus und gestaltete diesen mit. Die Möbel und die Kunst der führenden Künstler sind in allen berühmten Museen vertreten und die Architektur dieser Zeit definiert und belebt auch weiterhin diverse Städte wie Paris, Wien, Glasgow oder Budapest. Aber ist Jugendstil noch bedeutsam? Leonie Beiersdorf antwortet: „Ja, auf jeden Fall. Im Jugendstil gibt es zum Beispiel viel Verbraucherkritik. Die Bewegung hinterfragte, unter welchen Bedingungen unsere Massenware produziert wird, wohin uns das als Gesellschaft führt und ob wir die Welt verbessern könnten, wenn wir ein bisschen mehr darüber nachdenken würden, was wir kaufen und wie. Solche Gedanken und Themen waren damals relevant und sind es heute noch.“

Und die Hippies?

Letztendlich entsprangen viele der wichtigsten sozialen, politischen und umweltpolitischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts dem Summer of Love. Diese Zeit zeigte neue Wege öffentlicher und persönlicher Verantwortung auf, hinterfragte das konventionelle Verständnis der Geschlechter, der Klassen und der Herkunft. Diese wahrgenommene Gegenkultur, die die Hippies anstifteten und verbreiteten führte uns letztendlich zum Punk und genau wie der Jugendstil zeigt uns der Hippie, dass wir die meisten der Konsumfallen, von denen wir denken, dass wir sie unbedingt brauchen, nicht brauchen.

Also sollten wir vielleicht nicht zu streng mit den Hippies sein.

Wie dem Jugendstil haben wir auch ihnen viel zu verdanken. Oder hätten es, wenn wir eher die Botschaft beherzigen würden, als uns auf das Oberflächliche, Visuelle zu konzentrieren.

Und auf die allgegenwärtige Nacktheit.

„Jugendstil. Die große Utopie“ kann noch bis Sonntag, den 7. Februar im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg besucht werden. Weitere Informationen, auch zu dem begleitenden Rahmenprogramm gibt es auf www.mkg-hamburg.de.

1. Nicht zugeordnet, oder zumindest können wir die Quelle nicht finden. Nur die Version, die wir uns an die Wand gehängt haben……

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