#campustour 2017: Central St Martins Degree Show, London, England

Voller Wissensdurst kam sie aus dem fernen Griechenland nach London, studierte Bildhauerei am St Martins College und kannte sich, zumindest laut Jarvis Cocker, absolut nicht in der brutalen Realität der britischen Gesellschaft in den späten 1980er-Jahren aus. Begierig zu wissen, ob die heutigen Designabsolventen der Central St Martins 2017 fester in der Realität verankert sind, machen wir uns im Rahmen der #campustour 2017 auf in den Norden Londons.

Central St Martins,London. The Granary

Central St Martins, London. Der Getreidespeicher.

Central St Martins, London

Das Central St Martins, wie wir es heute kennen, hat seine Wurzeln bereits im 19. Jahrhundert. 1989 entstand es aus der Fusion zweier glorreicher Schulen: der Saint Martin’s School of Art, gegründet 1854, und der Central School of Art and Design, 1869 als Central School of Arts and Crafts gegründet und später aufgrund des sich verschiebenden Fokus‘ umbenannt. 1999 wurde das Central St  Martins durch eine Fusion mit dem Drama Centre London sowie 2003 mit der Byam Shaw School of Art erweitert. Central St Martins ist Teil der heutigen University of the Arts London, einer Institution, die sechs Londoner Kreativ- und Kunsthochschulen vereint. Das St Martins bietet ein breitgefächertes Sammelsurium von Grund- und Erweiterungsstudiengängen aus unterschiedlichen Bereichen an. So kann man beispielsweise Mode, Textilkunst, Schmuckdesign, Performancekunst, bildende Kunst, Produktdesign oder auch Industriedesign studieren. Letztere zwei waren unser persönlicher Fokus bei der Jahresabschlussausstellung 2017.

Central St Martins, London. The Granary Atrium

Central St Martins, London. Das Atrium des ehemaligen Getreidespeichers.

Central St Martins, London Degree Show 2017

Die Absolventenausstellung 2017 findet auf dem Campus des Central St Martins statt, einem ehemaligen Getreidespeicher aus dem 19. Jahrhundert in der Nähe von King’s Cross. Auf der Ausstellung waren die Ergebnisse einer Reihe von Bachelor- und Masterstudiengängen zu sehen, unter anderem von dem Masterprogramm „Materialien der Zukunft“ – einem zwei Jahre langen, interdisziplinären Master, der sich mit möglichen Zukunftsszenarien sowie theoretischen Antworten hierfür beschäftigt. Der Abschlussjahrgang des Master of Arts „Materialien der Zukunft“ stellt eine umfangreiche Produktkollektion vor, darunter etwa „The Galactic Everyday“ von Hannah Brooks, die sich damit beschäftigt hat, menschliche Leichen zu recyceln. Der Fokus der Arbeit liegt darauf, wie sich Wasser von toten Menschen „ernten“ ließe. „Future Farming“ von Agusta Arnardottir stach uns ebenfalls ins Auge: Sie beschäftigt sich mit Open-Source-Lösungen für kleinere Bauernhöfe, welche auf Technologien basieren, die sonst nur für groß angelegte industrielle Farmen zugänglich sind.

„Materialien der Zukunft“ präsentiert eine Zukunft, die vielleicht nicht unbedingt einer Dystopie entspricht, aber uns dennoch zeitnahe, ernsthafte soziale und ökonomische Veränderungen abverlangt, und vor allem dazu auffordert, zu einem globalen Konsens zu kommen, wenn es darum geht, in welche Richtung es gehen soll und wie wir dorthin gelangen möchten.

Ergänzend zu den Abschlussprojekten gab es bei der Central St Martins Ausstellung 2017 auch die Ergebnisse diverser Semesterprojekte zu sehen, die in Zusammenarbeit mit kommerziellen Partnern liefen. Solche Kooperationen sind natürlich wichtig und ein relevanter Teil der Ausbildung eines jeden Designers, jedoch haben uns einige dieser Projekte etwas beunruhigt. Wir nennen hier keine Namen, um einen Spießrutenlauf zu vermeiden. Jedoch ist ein Projekt, das dem Kooperationspartner mehr bringt als dem Studenten selbst, schlicht kein gutes Projekt. Natürlich müssen auch die Partner etwas von dem Projekt haben, jedoch sollte dies nicht unverhältnismäßig werden und dem Studenten in erster Linie dabei helfen, sich als Designer weiterzuentwickeln. Oder, anders ausgedrückt: Der unmittelbare Fokus sollte auf dem Studenten liegen, nicht auf dem Partner. Andererseits sollten wir vielleicht einfach darauf vertrauen, dass die Studenten dazu in der Lage sind, Lug und Trug im Zweifel zu durchschauen. Abgesehen von solchen Bedenken gab es jedoch eine Reihe von Projekten, die unsere Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich gezogen haben.

Material Futures, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

„Materialien der Zukunft“, gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

Landschaftsbank „Harmony“ von Yining Shan

Ein Projekt, das im Rahmen des Masterstudiengangs „Möbeldesign“ entworfen wurde, ist „Harmony“. „Harmony“ versucht laut Shan „einen Ausgangspunkt für Stadtbewohner zu kreieren, von dem aus sie sich von ihrer stressigen Umgebung befreien können, indem eine abstrakte hügelige Umgebung als Sitzgelegenheit für sie kreiert wurde“. Das gewählte Vokabular für diese abstrakten Landschaften hat seinen Ursprung in Orakelknochenschrift, eine der frühesten Versionen chinesischer Schrift. Ein optisch ansprechendes, gut proportioniertes, einnehmendes Objekt, das eine ganze Reihe von Sitzmöglichkeiten anbietet. Was uns dabei am meisten angesprochen hat, ist, dass die Basis eine Spiegelung des vorgesehenen Sitzes ist. Das ist aus zwei Gründen beeindruckend: Zunächst bringt diese Spiegelung wahrlich Harmonie in die Arbeit. Die Beziehung des Sitzes zur Basis ist bei jedem Sitzobjekt wichtig und indem man dieselben Strukturen und Formen an denselben Stellen platziert, kreiert man ein logisches und zugleich zugängliches Objekt. Eines, das aber auch durchaus komplex sein kann, und zwar deshalb, weil genau diese Komplexität zweitrangig wird. In der Tat bietet „Harmony“ einen verstrickten Ansatz an den Eieruhrhocker/-tisch. Und dann ist da auch noch die Tatsache, dass man es, rein theoretisch, einfach umdrehen könnte und somit eine Ode an die Ruhe der chinesischen Berge in ein reduziertes, industrielles Ödland verwandelt. Aber immerhin ein Ödland, das auf einer landschaftlichen Idylle thront.

Landscape Bench "Harmony" by Yining Shan, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

Landschaftsbank „Harmony“ von Yining Shan, gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

Landscape Bench "Harmony" by Yining Shan, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

Landschaftsbank „Harmony“ von Yining Shan, gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

„Opposites“ von Zhen Jiang

Möbelstücke und andere Haushaltsgegenstände haben ihre anerkannten Formen. Designer nehmen diese Formen als Grundlage, werfen einen Blick auf die Materialien, aus denen sie gefertigt sind, auf die Umstände der Fertigung und auf die Beziehung zu anderen Objekten. Die Ergebnisse dieser Betrachtungen wurden in Mailand als etwas Neuartiges ausgestellt.

Aber diese Formen basieren nicht auf unwiderruflichen Gesetzen, vielmehr haben sie sich im Laufe von Zeit und Konventionen bewährt. Zhen Jiang hat diese Formen hinterfragt und mit ihnen gespielt. Erfreulicherweise sind dabei neue Version von einem Tisch und einem Abfallbehälter herausgekommen.

Obwohl die meisten von uns einen flachen, ebenen Tisch haben, nutzen ihn die wenigsten als solchen. Gedanklich unterteilen wir ihn in verschiedene Bereiche: Bereiche, die bestimmten privaten oder beruflichen Funktionen zugeordnet werden. Mit seinen „Opposites“ Schreibtischen hat Zhen Jiang diese gedankliche Unterteilung physisch umgesetzt und so den konventionellen Tisch in eine Inselgruppe verwandelt. Nicht nur eine höchst ansprechende, sondern vor allem eine sehr logische Verwandlung. Genauso wie das Konstruktionssystem aus Metall, auch wenn wir uns durchaus auch andere Materialien in diesem Zusammenhang vorstellen könnten. Ja, es mag auch Probleme geben diese Konstruktion in Serienproduktion anzufertigen, aber keine unüberwindbaren.

Ebenso ansprechend ist der „Opposites Litter Bin“, der nicht nur die akzeptierte Form eines Abfallbehälters umwandelt, sondern auch wie man diesen entleert. Ohne zu viel verraten zu wollen: Die Lösung für die Entsorgung ist genauso spaßig wie (schmerzlich) offensichtlich. Außerdem ermöglicht seine nach oben hin schmaler werdende Form, dass der Eimer, so die Theorie, in sämtliche Räume passt – ganz im Gegensatz zu den standardisierten Mülleimern, die förmlich „MÜLLENTSORGUNG“ schreien und die wir folglich versuchen so gut es geht zu verstecken. Zhen Jiang’s Mülleimer ist so ziemlich das genaue Gegenteil davon.

Opposites Desk by Zhen Jiang, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

„Opposites“ Schreibtisch von Zhen Jiang, gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

Opposites Desk by Zhen Jiang, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

„Opposites“ Mülleimer von Zhen Jiang, gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

„Affix“ von Rebecca So

Im Rahmen eines Projekts, das von Anglepoise gesponsert wird, stellt „Affix“ Arbeitsplatzbeleuchtung und Stau- und Ausstellungsraum für allerlei Bürobedarf zugleich dar. Was Sinn ergibt, denn immerhin sind die meisten Lichtquellen am Arbeitsplatz an einer Strippe über dem Tisch befestigt. Warum sollte man den Platz über oder unter der Beleuchtung also nicht in den Arbeitsplatz integrieren? Die einzige Frage richtet sich an den Effekt der Lichtquelle. Während mancher Schatten sich einfach nicht vermeiden lässt, so sollte er dennoch nie ablenken oder gar hinderlich sein. Die zweite (einzige) Frage stellt sich, wenn man das zusätzliche Gewicht der Lampe berücksichtigt, denn hier wird mit Sicherheit eine zusätzliche Aufhängung erforderlich sein. Und dann ist da noch das Optische. Wir sind uns, um ehrlich zu sein, nicht ganz sicher, was wir von der „Cartoon-Ästhetik“ von Rebecca Sos Entwurf halten sollen. Aber wer weiß, vielleicht ist das genau das Richtige für Start-ups und jene, die Innendesign als eine Form der Selbstverleugnung ansehen. Also, ja, es gibt durchaus einige Fragen, die offen sind. Aber wir sollten nicht vergessen, dass hier die Arbeiten von Studenten präsentiert werden und somit Ideen, die sich gerade erst in ihrer Entwicklung befinden.

Affix by Rebecca So, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

„Affix“ von Rebecca So, gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

Affix by Rebecca So, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

„Affix“ von Rebecca So (Modell) gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

„[Em]power“ von Sigrid Husson

Dass wir die Art und Weise, wie wir leben, ändern müssen, sollte inzwischen jedem klar sein. Wie genau wir das anstellen – nicht ganz so klar. Mit „[Em]power“ präsentiert Sigrid Husson eine Alternative zur herkömmlichen Waschmaschine. Während die Optik an die eines 3D-Druckers erinnert und ganz offenkundig ein Anhänger von offenen Systemen und schneller Verarbeitung ist, ist „[Em]power“ selbst ein Flatpack, das selbst aufgebaut, repariert und durch zwei Pedale auch selbst angetrieben werden kann. Und so reduziert „[Em]power“ nicht nur den Verbrauch von Ressourcen, der mit der Kleiderwäsche einhergeht, sondern auch den Ressourcenverbrauch in Bezug auf die Herstellung, den Verkauf und die Instandhaltung von Waschmaschinen für den häuslichen Gebrauch.

Aber das betrifft nicht nur unsere Waschmaschinen zu Hause. Als eine kostengünstige und lokale Low-Tech-Lösung offenbart „[Em]power“ auch Möglichkeiten für Extremsituationen, wie sie zum Beispiel in Notunterkünften herrschen. Durch die Verpackung als Flatpack und die Montage, die erst direkt vor Ort erfolgen muss, wird „[Em]power“ zu einer höchst attraktiven Alternative bis permanentere Vorrichtungen installiert werden können. Auch wenn es noch ein langer Weg ist, bis das Produkt sich im großen Stil etablieren kann, ist es doch ein äußerst interessanter Ansatz.

[Em]power by Sigrid Husson, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

„[Em]power“ von Sigrid Husson, gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

„Uncomfort Design“ von Chang Liu

Die Geschichte vom zeitgenössischen Stuhldesign beginnt mit der Entwicklung des sogenannten „backstool“: Ursprünglich grenzten Tische an Wände, sodass alle, die sich am Tisch befanden, mit dem Rücken zur Wand saßen. Doch die sozialen Konventionen änderten sich und der Tisch wanderte immer mehr in die Mitte des Raums, sodass Hocker nach langem Sitzen unbequem wurden. Eine Rückenlehne musste her. Das war im 17. Jahrhundert. Seitdem richtet sich die gesamte Aufmerksamkeit darauf, wie man Stühle noch bequemer machen kann.

Was, wenn man so will, 400 Jahre verschwendeter Liebesmüh sind. Zumindest könnte man auf den Gedanken kommen, wenn man Chang Lius Projekt „Uncomfort Design“ betrachtet.

Absichtlich so designt, dass er unkomfortabel ist, zwingt Chang Lius Stuhl seinen Benutzer dazu eine komfortable Sitzposition zu finden, oder, mit anderen Worten, er verlangt, dass man eine vorteilhaftere und gesündere Sitzposition einnimmt. So wird der scheinbar unvorteilhafte Stuhl zu etwas sehr Positivem.

Auch wenn das Projekt mit Sicherheit nicht das erste seiner Art ist und bisher nur als Modell existiert, das noch nicht erprobt wurde, so sind wir doch begeistert davon, wie es handgemachte dänische Stühle neu interpretiert.

 

Opposites Desk by Zhen Jiang, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

„Uncomfort Design“ von Chang Liu (Modell), gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

„Impact“ von Evian Varu

Motiviert durch das Bestreben Fitnessgeräte besser in unser Zuhause zu integrieren, ist der Sandsack „Impact“ entstanden, der so, so viel mehr ist als „nur“ ein Sandsack.

Als eine an der Wand befestigte Einheit steckt „Impact“ die Schläge ein, die man ihm verpasst, indem es sich verformt. Mit jedem Schlag formt man und das Objekt ist das Ergebnis von allen Wunden, die man ihm verpasst. So ist es, auch wenn es gerade nicht aktiv genutzt wird, ein Objekt im Raum und steht somit ganz im Gegensatz zu all den anderen Sportgeräten, die einfach nur im Weg stehen, sobald man sie nicht benutzt.

Obwohl es sich in einem sehr, sehr frühen Entwicklungsstadium befindet, ist „Impact“ weit über seine Funktion als Fitnessgerät – oder etwas, an dem man einwandfrei seine Wut auslassen kann, wenn gerade nichts anderes in der Nähe ist und vielleicht auch als Gegenstand, mit dem man durchaus Spaß haben kann –  interessant. Warum also in die Luft schlagen, wenn doch „Impact“ da ist, das nicht nur einen Widerstand bildet, sondern gleichzeitig den Raum gestaltet.

Alle Informationen über Central St Martins gibt es auf: www.arts.ac.uk/csm

Impact by Evian Varu, as seen at Central St Martins, London Degree Show 2017

„Impact“ von Evian Varu (Rendering), gesehen bei der Central St Martins Jahresabschlussausstellung 2017, London

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