Freiheit 2.0 Stuttgart : „Was hat Big Data mit Freiheit zu tun?“

Wenn Schwarmintelligenz natürliche Systeme beschreibt, in denen Individuen ihre Ressourcen zum Nutzen der Gemeinschaft bündeln, dann könnte Big Data als eine Form von Schwarmintelligenz betrachtet werden, die sich der Handel aneignet: wo der Handel Ressourcen der Individuen, ihre Daten, zum Nutzen des Handels bündelt. Sowohl bei der Schwarmintelligenz als auch bei Big Data sind sich die beteiligten Personen des Ausmaßes der Interaktion und des Ressourcen-Poolings weitgehend nicht bewusst. Während jedoch Vögel, Bienen, Fische und Ameisen sich dessen nicht bewusst sein müssen, sollten wir uns durchaus bewusst sein, dass wir Big Data im Allgemeinen zu nicht viel mehr als einer Demonstration von Schwarmunintelligenz machen und dabei wohl eher eine Schwarmfahrlässigkeit herauskommt.

Florian Mehnert visualisiert mit seiner partizipativen Kunstinstallation „Freiheit 2.0“ die permanente Interaktion zwischen unserem analogen und digitalen Leben und die sich daraus ergebenden Spannungen. Er will uns so einen neuen, differenzierten Blick darauf ermöglichen, wo wir stehen und wo es mit uns hingehen könnte.

Im Juni 2018 ist „Freiheit 2.0“ in Stuttgart zu erleben. Vor der Eröffnung haben wir mit Florian Mehnert gesprochen.

Freiheit 2.0 Stuttgart

Das ursprünglich 2016 in Weil am Rhein inszenierte Projekt ist in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung anderer von Florian Mehnert seit 2013 entwickelter Projekte. Vor allem vielleicht seines Waldprotokolle-Projekts, bei dem er Waldlichtungen verwanzte und die Gespräche von Passanten aufzeichnete und veröffentlichte. „Freiheit 2.0“ ist eine umfassende Abhandlung, die uns dazu bringen soll, unser Verhältnis zu Big Data, das Verhältnis von Big Data zu uns und die damit verbundenen Fragen bezüglich Privatsphäre, Demokratie und Freiheit in unserem digitalen, vernetzten Zeitalter zu überdenken. Überlegungen also, denen, wie wir oft bemerkt haben, wir uns derzeit alle stellen müssen, und die wir nicht etwa delegieren können bzw. sollten – schon gar nicht als Architekt oder Designer.

Daher ist es auch so erfreulich, dass eine zentrale Rolle in „Freiheit 2.0“ von der breiten Öffentlichkeit selbst übernommen wird. Das wird vielleicht am deutlichsten bei der eigens für das Projekt entwickelten Self Tracking App. Frei verfügbar auf der Website von „Freiheit 2.0“, sendet die App nach der Installation alle 30 Sekunden anonymisierte Standortdaten an den zentralen Projektrechner und ermöglicht so die Erstellung individueller Bewegungsprofile, die auf einer Großbildleinwand im Stuttgarter Stadtpalais öffentlich gezeigt werden. Die App ist ein relativ einfaches Werkzeug und ermöglicht eine sehr effektive Visualisierung der Spuren, die wir alle in unserem täglichen Leben hinterlassen und der vielen Informationen, die aus ihnen gewonnen werden können. Wir sollten alle überlegen, ob wir das wollen. Und wenn nicht, was wollen wir dann?

Darüber hinaus werden für die Dauer des Projekts 26 Unternehmen in Stuttgart umbenannt, indem der Begriff „Freiheit“ hinzugefügt wird – smow Stuttgart zum Beispiel in „Smow der Freiheit“. Wobei die Ergänzung einerseits dazu dient, die Freiheit in unserem täglichen Leben zu visualisieren, zu ersetzen und andererseits als Einladung zu Gesprächen zu diesem Thema verstanden werden kann. Ähnlich wie das Leitsystem, mehrfarbige Linien, die von den 26 umbenannten Unternehmen zum Stadtpalais führen und die Datenströme visualisieren, die wir alle kennen, die wir aber, da wir sie nicht sehen können, ignorieren und auch als Grundlage für Reflexion und Konversation dienen sollen.

Die vierte Säule von „Freiheit 2.0“ ist das Kolloquium. An den vier Juni-Wochenenden werden beim Kolloquium „Freiheit 2.0“ eine Reihe von eingeladenen Experten über Aspekte des Datenschutzes, der Privatsphäre, der Beziehungen zwischen Mensch und Wirtschaft etc. referieren. Die Vorträge werden durch Podiumsdiskussionen zu den angesprochenen Themen ergänzt.

Vor „Freiheit 2.0“ in Stuttgart sprachen wir mit Florian Mehnert über das Projekt, die Big Data-Branche und unsere aktuelle und zukünftige Beziehung zu ihr. Zunächst aber haben wir gefragt, wie das Stuttgarter Projekt zustande kam…….

Florian Mehnert: Dr. Stefan Brink, der Landesbeauftragte für den Datenschutz in Baden-Württemberg, hatte von Freiheit 2.0 in Weil erfahren und fragte mich, ob ich Interesse hätte, es nach Stuttgart zu bringen. Zum einen war das Projekt mit der Absicht konzipiert, es an anderen Orten durchführen zu können. Es war von Anfang an nicht ortsspezifisch konzipiert, sondern sollte reisen. Hinzu kam das Interesse, es woanders auszuprobieren und zu sehen, wie das Projekt in einem anderen Umfeld funktioniert.

smow Blog: Im Zusammenhang mit der Frage, wie es in Weil am Rhein funktioniert hat, halten Sie in Ihrer Projektpublikation fest, dass die Arbeit Ihr „Verständnis der Haltung unserer Gesellschaft zu den Entwicklungen der Big Data vertieft“. Inwiefern?

Florian Mehnert: Mir ist klar geworden, in welcher Unwissenheit die Leute teilweise leben, dass ihnen zum Teil das Hintergrundverständnis fehlt und sie keine Vorstellung von den Geschäftsmodellen der Big Data und der Digitalisierung haben. Beispielsweise verstehen viele nicht, dass jede Äußerung im digitalen Raum gespeichert und verwertet werden kann, auch die Google-Suche. Es herrscht die Vorstellung, dass die vermeintliche Belanglosigkeit ihres Daseins oder die ihrer Äußerungen nicht relevant sei. Das höre ich sehr oft. Die Leute verstehen nicht, dass gerade diese vermeintlich belanglosen Informationen – was die Menschen interessiert und was nicht, was sie gut und nicht gut finden, mit wem sie kommunizieren und wie oft – absolut relevant für die kommerzielle Auswertung sind.

Das ist, als ginge man einkaufen und jemand neben einem würde alles protokollieren, was man macht – in welche Schaufenster man schaut, in welche Geschäfte man geht, ob man da etwas einkauft und was, wie lang die ganze Sache dauert und mit wem man sich unterhält.

Auf der anderen Seite habe ich erfahren, dass es durchaus den Wunsch gibt, die Errungenschaften von Privatsphäre und Freiheit nicht aufzugeben. Es handelt sich dabei eigentlich um ein Grundbedürfnis, viele haben den Eindruck, dass dieses gegeben sei und können nicht ermessen oder sich nicht vorstellen, dass dem nicht so ist.

smow Blog: Bedenkt man, was seit 2016 passiert ist, dass seitdem jeder einen Fitnesstracker am Handgelenk und einen intelligenten Lautsprecher in der Küche hat, wir aber gleichzeitig alle schockiert über die Nachricht sind, dass Unternehmen kommerziell Facebook-Daten sammeln, kann man dann sagen, dass sich die Big Data-Industrie schneller entwickelt als das Verständnis der Gesellschaft für diese Entwicklungen?

Florian Mehnert: Ja, wesentlich schneller, so viel schneller, dass der Einzelne diese Entwicklungen nicht nachvollziehen kann, außer er beschäftigt sich en détail damit und hat ein Grundwissen. Eine Grundintention des Projektes ist es deshalb, Hintergrundinformationen zu geben und darüber zu diskutieren, was die Fakten sind und in wie viele Bereiche des Lebens diese Veränderungen eindringen. Wichtig ist, dass es dabei nicht nur um die WhatsApp-Nachricht oder Google-Suche geht. Hinzu kommen beispielsweise das autonome Fahren, Auswirkungen auf Versicherungstarife, „Echtzeitversicherung“ beispielsweise – zukünftige Modelle bei denen Krankenversicherungen jeden Tag deine Daten analysieren und auf der Basis eines Mittelwertes jeden Monat neue Tarife berechnen könnten.

smow Blog: Sie erwähnten den autonomen Verkehr, der in einer Stadt wie Stuttgart natürlich ein wichtiges Thema ist, sind wir im Moment so sehr auf die, sagen wir, physische Sicherheit von autonomen Fahrzeugen fokussiert, dass wir Gefahr laufen, die Fragen der Datensicherheit aus den Augen zu verlieren?

Florian Mehnert: Ich würde mal so sagen: Die Automobilindustrie hat kein starkes Interesse, über Datensicherheit zu sprechen, weil das viele Dinge schwieriger macht und auch manche Geschäftsmodelle, die sie gerade im Blick hat, eventuell kaputt machen würde. Deshalb hat die Industrie weniger Interesse, über Privatsphäre- oder Datenschutz-Problematiken zu sprechen. Die möchten ihre Projekte durchziehen. Als Referenten für die Kolloquiuen habe ich Prof. Günther Sabow eingeladen, der in die Lobby der Automobilindustrie involviert ist. Er wird über diese Dinge sprechen und ich glaube, er wird sehr klare, realistische Worte dafür finden, wo wir in dieser Problematik derzeit eigentlich stehen.

smow Blog: Wird die neue Datenschutz-Grundverordnung, die seit Ende Mai in Kraft ist, im Hinblick auf den Datenschutz der BigData-Branche einen Unterschied machen?

Florian Mehnert: Es wird schwieriger werden. Konzerne müssen in dem, was sie tun, transparenter werden. Das sieht man an den neuen AGBs. Zum Teil müssen sie auch andere Auflagen erfüllen, beispielsweise muss das Einverständnis eingeholt werden, dass die Daten nach Amerika dürfen. Aber das Grundproblem bleibt immer noch der private Vertrag, wenn der einzelne einfach „ja“ sagt, dann sind diese Regulierungen machtlos.

smow Blog: Und so kommen wir letztendlich wieder bei unseren individuellen Handlungen an?

Florian Mehnert: Es muss einen ethischen Konsens geben, auf den sich die Gesellschaft einigt. Das trifft natürlich auch auf die Wirtschaft zu, denn die Wirtschaft besteht ja auch aus Menschen. Schaut man beispielsweise auf die Genindustrie, da  gibt es gewisse Tabus: Das Verbot, Menschen zu klonen wird man nicht ohne Weiteres abschaffen, Gensequenzierung oder Krankheitsforschung über Gensequenzierung, ja – aber Menschen klonen, nein. So etwas Ähnliches muss hinsichtlich der Daten passieren – es muss, wenn mit Daten gehandelt wird, bestimmte, sagen wir, Tabus, geben. Aber bis dahin ist der Weg lang und es braucht vor allem mündige Bürger, es braucht genug Leute in der Gesellschaft, die die Problematik durchdringen und sagen: „Da gibt es Probleme, hier müssen wir handeln.““

smow Blog: In diesem Sinne und mit Blick auf diese Zukunft: Gibt es in Stuttgart eine Veranstaltung speziell für Schüler, die neu ist seit Weil?

Florian Mehnert: In Weil habe ich auch mit Schülern gesprochen und gesehen, dass das Bedürfnis zum Teil sehr groß war, über diese Themen zu sprechen, aber in Weil gab es kein extra Forum dafür und so habe ich in Stuttgart mit dem Landesbauftragten für Datenschutz eine Plattform mit Referenten organisiert.

smow Blog: Ist es so, dass viele Digital Natives „ein oft ungetrübtes Verhältnis zur ihren Daten haben“?

Florian Mehnert: Auch, aber sie müssen die Konsequenzen verstehen, die auf eine liberale, demokratische Gesellschaft zukommen, wenn wir so weitermachen wie bisher und einen „Dataismus“ propagieren, in dem Glauben, dass sich mit noch mehr gesammelten Daten die Welt besser beherrschen, die Gesellschaft steuern oder Krankheiten heilen ließen. Algorithmische Systeme sind von Menschen programmiert, die können sich täuschen. Man kann komplexe Zusammenhänge nicht mit Sicherheit bestimmen oder vorhersagen. Die Industrie sagt uns, dass das möglich sei, die Wahrheit ist aber, dass alles großen Fehlerquoten unterliegen kann. Das ist ok, wenn Daten, sagen wir, nur für Werbezwecke benutzt werden, aber wenn es zum Beispiel um Gesundheit oder Finanzen geht, dann spielen diese Probleme eine große Rolle.

„Freiheit 2.0“ findet vom 2. bis 26. Juni in ganz Stuttgart statt, alle Details, einschließlich des Kolloquien-Programms und der Self Tracking App, finden Sie @ http://freiheit.florianmehnert.de/

Mehr Informationen über Florian Mehnert und seine bisherigen Projekte finden Sie unter: florianmehnert.de

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