Mon univers @ Pavillon Le Corbusier, Zürich

„Diese Haus ist ein Werk von Le Corbusier“ steht auf einem gelb-weißen Schild am Rande des Parks Zürichhorn. „Ich habe es zu seinen Ehren erstellen lassen, um von hier aus seine Ideen zu verbreiten und in seinem Sinne in der Öffentlichkeit zu wirken.“

Mit der Ausstellung „Mon univers“ will der Pavillon Le Corbusier in Zürich den Schweizer Architekten, Künstler, Designer und Autor aus einer ganz spezifischen Perspektive betrachten: Es geht um seine Sammlung.

A Spanish Tinaja, ships cowls, and furniture by Le Corbusier/Jeanneret/Perriand, as seen at Mon univers, Pavillon Le Corbusier, Zürich

Ein spanischer Tinaja, Schiffshauben und Möbel von Corbusier/Jeanneret/Perriand, gesehen bei „Mon univers“, Pavillon Le Corbusier, Zürich

1960 schlug die Zürcher Galeristin Heidi Weber, die damals die exklusiven Rechte an den Stahlrohrmöbeln von Jeanneret und Perriand besaß, Le Corbusier den Bau eines neuen Museums in Zürich vor. Ein Museum von Le Corbusier für Le Corbusier. „Wissen Sie“, antwortete Le Corbusier, „für die Schweizer tue ich überhaupt nichts mehr; sie waren noch nie nett zu mir.“ Heidi Weber bestand aber darauf und Le Corbusier stimmte zu. Im Mai 1964 begann der Bau des Maison d’Homme, der mit dem Tod von Le Corbusier beim Schwimmen in Roquebrune-Cap-Martin im August 1965 abrupt zum Stillstand kam. Heidi Weber übernahm die Verantwortung für die letzten Bauphasen und im Juli 1967 wurde das Heidi Weber MuseumCentre Le Corbusier in Erinnerung an Le Corbusier eröffnet. Und das nicht nur als Ausstellungsraum für Le Corbusiers Werk, sondern, wie es das Schicksal wollte, eben auch als Le Corbusiers letztes architektonisches Werk.

Geplant und gebaut auf der Grundlage des modularen Bausystems „Brevet 226 x 226 x 226 x 226 x 226“ von Le Corbusier, ist der Zürcher Pavillon nicht nur die einzige Realisierung dieses Systems, sondern auch der einzige von Le Corbusier realisierte Glas- und Stahlrahmenbau. Er weist jedoch mehrere von Le Corbusier oft verwendete Elemente auf, darunter eine strenge quadratische Geometrie, Stelzen zur Schaffung freischwebender Elemente, markante Farben und Sichtbeton. Und obwohl das Gebäude etwas unnachgiebig und formell wirkt, ist es mit seinen portalartigen Türen, der galeerenartigen Küche und den steilen, schmalen Treppenhäusern doch auch verspielt und erinnert an ein Schiff. Ein Werk, das im Vergleich zu Le Corbusiers erstem Gebäude, der Jugendstilvilla Fallet in seinem Heimatort La Chaux-de-Fonds, auch verdeutlicht, auf welche Reise Charles-Édouard Jeanneret ging, um Le Corbusier zu werden.

Im Jahr 2014 lief der 50-jährige Pachtvertrag von Heidi Weber an dieser Stelle des Zürichhorns aus und der Boden samt Gebäude ging an die Stadt Zürich zurück. Nach Renovierungen und Aufwertungen wurde der Pavillon Le Corbusier im Mai 2019 als Dependance des Zürcher Museums für Gestaltung (wieder)eröffnet. „Mon univers“ ist die erste temporäre Ausstellung.

Pavillon Le Corbusier, Zürich

Pavillon Le Corbusier, Zürich

Da Architekten in der Bevölkerung nur für die Gebäude bekannt sind, die auch gebaut werden, und da die meisten Architekten nur relativ wenige Gebäude planen, wissen die meisten von uns so gut wie gar nichts über bestimmte Architekten. Anders ausgedrückt: Das populäre Bild eines Architekten ist nur der Spiegel seiner realisierten Werke und daher sehr restriktiv. Dieser Zusammenhang wird im Falle von Le Corbusier durch einen Überfluss öffentlich zugänglicher Bilder verstärkt, bei denen es sich aber nur um eine magere Auswahl handelt, die Le Corbusier immer wieder als ernsthaften, strengen, eher düsteren Mann mit runden Brillengläsern zeigt. Le Corbusier mit einer Vase auf dem Kopf, wie ein frisch gekrönter Spitzensportler, der seine Trophäe den Medien präsentiert, passt nicht in ein solches Bild. Auch wenn die runden Brillengläser nicht fehlen.

Genau dieses Bild aber begrüßt  den Besucher von „Mon univers“ und verspricht, dass auch die Ausstellung eine alternative Sicht auf Le Corbusier bereithalten wird, eine Sichtweise, die sehr viel reichhaltiger ist, als die, die wir allein durch seine Architektur auf Le Corbusier haben können.

Die besagte Vase erwarb Le Corbusier 1911 in Serbien während einer ausgedehnten Studienreise durch das heutige Ungarn, den Balkan, Griechenland und die Türkei. Eine von zahlreichen Studienreisen des jungen Charles-Édouard Jeanneret, der damals noch nicht Le Corbusier hieß, vor dem Krieg. Diese Reisen prägten sein Weltbild maßgeblich, einschließlich seiner Reise durch Deutschland 1910/11 im Auftrag der École d’Art von La Chaux-de-Fonds, bei der er nicht nur viele der führenden deutschen Architekten und Designer dieser Zeit kennenlernte, sondern auch etwa fünf Monate für Peter Behrens in Babelsberg arbeitete, zusammen mit zwei jungen Architekten namens Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe.

Hinzu kommt eine Orientreise im Jahr 1911, die nicht nur die Ausstellung „Mons univers“ eröffnet, sondern tatsächlich auch einen Einstieg in das Universum Le Corbusiers darstellt. Die vielfältigen und zahlreichen Objekte der Volkskunst, die Charles-Édouard Jeanneret auf dieser Tour gesammelt hat, stellen eine zentrale Ader von Le Corbusiers umfangreicher Sammlung künstlicherischer und natürlicher Objekte dar. Bei diesen Objekten handelt es sich um Artefakte eines Lebens voller Neugier und um eine widerspenstige Mischung, die, wie die Ausstellung erklärt, die Grundlage für Le Corbusiers Forschungen bildete, denen er in seinem Atelier nachging und anhand derer er sein formales Verständnis ständig weiterentwickelte.

Die von Le Corbusier zusammengetragenen Objekte werden in „Mon univers“ in sechs kurzen Kapiteln vorgestellt und diskutiert. Unterschieden werden sie dabei in Objekttypen: Es gibt zum Beispiel anonyme, bescheidene Alltagsgegenstände wie Gläser, Flaschen, Pfeifen, die in Le Corbusiers Gemälden zu finden waren und ihm ein Verständnis von Form und auch von Dekoration vermittelten; oder Kegel, Muscheln, Treibholz u.a., die seiner Arbeit organischere Formen verliehen und ein Verständnis für die Zusammenhänge von Emotionen und Form. Eine Auswahl der auf seiner Orientreise gesammelten Objekte, darunter eine ungarische Weinkanne, ein türkischer Krug oder eine braune serbische Vase, erinnern in ihrer archetypischen Natur an den Menschen Le Corbusier. Die komplexe Dekoration mehrerer Volkskunstobjekte erinnert wiederum daran, dass in früheren Zeiten die Dekoration oft wichtiger war als die Funktion, sei es aus zeremoniellen oder rituellen Gründen, oder nur um den (wahrgenommenen) Wert des Objekts zu unterstreichen. Ein Wert, der durch die Arbeit von Le Corbusier und vieler anderer auf die Funktionalität übertragen wurde.

Die ausgestellten Objekte werden auch anhand von Skizzen und Gemälden Le Corbusiers präsentiert, die zeigen, wie er sie visualisiert hat. Hinzu kommen Fotografien, die die Objekte der Ausstellung als Gegenstände zeigen, mit denen Le Corbusier täglich lebte, und Fotografien von Le Corbusier, darunter eine Aufnahme von Pierre Jeanneret mit Albert Jeanneret, Amédée Ozenfant und Le Corbusier in Le Corbusiers Pariser Wohnung und eine von Le Corbusier 1952, wie er in seinem Haus in Roquebrune-Cap-Martin arbeitet, mit freiem Oberkörper, in Shorts; oder aber auch Le Corbusier auf einem Pferd in Bulgarien.

Objects collected by Le Corbusier on his 1911 voyage d'Orient, as seen at Mon univers, Pavillon Le Corbusier, Zürich

Objekte, die Le Corbusier auf seiner Orientreise 1911 sammelte, gesehen bei „Mon univers“, Pavillon Le Corbusier, Zürich

Neben einem Rundgang durch die Sammlung führt „Mon univers“ die Besucher auch zu einigen der wichtigsten Orte in Le Corbusiers Universum und diskutiert deren Relevanz und Bedeutung, sei es Roquebrune-Cap-Martin an der Côte d’Azur, die Bucht von Arcachon an der französischen Atlantikküste, seine Penthousewohnung in Boulogne-Billancourt an der südwestlichen Grenze von Paris oder die Wohnung in der 20, Rue Jacob im Herzen von Saint-Germain an der Pariser Rive Gauche, wo er zwischen 1917 und 1934 lebte und wo Charles-Édouard Jeanneret zu Le Corbusier wurde. Zudem eine Wohnung, die er in diesen 17 Jahren offensichtlich nie betreten hat. Ein Bild des französisch-rumänischen Fotografen Brassaï von Le Corbusier aus der Zeit um 1931 zeigt ihn an einem alten Holztisch sitzend.
Ein Tisch voller Dokumente und Akten, unzählige weitere Akten in und auf den Regalen hinter ihm. So brutalistisch viele Gebäude Le Corbusiers sind, so brutalistisch sind auch seine Regale, die sein Archivierungsprinzip offenbaren, während der Kaminsims allerdings mit Staubfängern, Ornamenten und Krimskrams bedeckt ist. Von dem reduzierten, klaren und strukturierten Umfeld, in dem man sich Le Corbusier lebend und arbeitend vorstellen würde, ist hier nichts zu sehen. Schon gar nicht auf einem weiteren Foto von Brassaï, das Le Corbusier am selben Tisch zeigt, eine Katze streichelnd. Seine Arbeit teilt sich hier die Tischplatte mit benutztem Geschirr. Allein die runden Brillengläser bestätigen, dass es sich um Le Corbusier handelt.

Die Objekte und Fotografien werden durch eine Präsentation von Postkarten ergänzt, die Le Corbusier auf seinen Reisen gesammelt hat, sowie durch Fotos, die Le Corbusier vom italienischen Dampfschiff Conte Biancamano gemacht hat, auf dem er im August 1936 von Rio de Janeiro nach Nizza reiste. Ein Dampfschiff, das ihn ebenso sehr interessierte und inspirierte wie die von ihm gesammelten Vasen, Treibhölzer und Granaten. Hinzu kommen Fotos einer Auswahl von Objekten, die repräsentativ für die Forschungen von Le Corbusier stehen, die seine Arbeit beeinflussten und inspirierten: darunter ein spanischer Ton-Tinaja-Topf, eine Schultermaske des guineischen Volkes Baga, ein einpoliger Ölschalter des Schweizer Elektronikunternehmens Brown, Boveri & Cie., eine Sammlung von rituellen westafrikanischen Ekoi-Masken und zwei Schiffshauben, die sich nicht nur auf die Conte Biancamano beziehen, sondern auch deutlich machen, dass Ionna Vautrin nicht die einzige Designer ist, die sich von diesem besonders weltlichen, funktionalen Objekt inspirieren ließ.

In die Präsentation eingewoben findet man Fotografien von René Burri von Le Corbusier bei der Arbeit, beim Spielen und Ausruhen. Hinzu kommen Kunstgegenstände Le Corbusiers sowie ein Nachbau eines Teils der Ausstellung „Les arts dits primitifs“ von 1935 – eine Ausstellung zur sogenannten „Kunst der Primitiven“ organisiert vom Galeristen Louis Carré und teilweise installiert in Le Corbusiers Wohnung.

Eine Gelegenheit, die Le Corbusier nutzte, um einen Teil seiner Sammlung und Kunstwerke von sich und Fernand Léger neben den präkolumbischen, afrikanischen und griechischen Skulpturen zu präsentieren und damit seine Auffassung einer Gleichberechtigung der Kreativität zum Ausdruck zu bringen: Demnach sei das Neue nicht unbedingt besser als das Alte, niemand habe ein Monopol auf kulturellen Ausdruck und das Gute sei gut und bleibe trotz der Zeit sozialer und kultureller Entwicklungen auch gut.

A recreation of the 1935 Les arts dits primitifs sales exhibition, as seen at Mon univers, Pavillon Le Corbusier, Zürich

Eine Nachbildung der Ausstellung von 1935 „Les arts dits primitifs“, wie sie in „Mon univers“, Pavillon Le Corbusier, Zürich, zu sehen ist.

Le Corbusier war und ist nicht der einzige Architekt und/oder Designer, der zwanghaft sammelte. In den meisten Ateliers zeitgenössischer Architekten und Designer findet man alle möglichen Objekte, künstliche und natürliche Artefakte, die aus unterschiedlichen, häufig erstmal unbekannten Gründen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Nicht nur die Objekte selbst, sondern vor allem auch die Art und Weise, wie der jeweilige Architekt/Designer auf sie reagiert hat und wie sie sich letztendlich in seiner Arbeit widerspiegelt. Solche Sammlungen können dabei helfen, ein besseres Verständnis von einem Architekten/Designer herauszubilden.

Damit kommen wir auf die Frage zurück, die Julian Barnes‘ Erzähler in seinem Roman „Flauberts Papagei“ stellt: Warum müssen wir uns über die Hintergründe von Künstlern informieren? Reicht ihre Arbeit nicht aus?

Das mag einerseits zutreffen, stimmt dann aber auch wieder nicht: Denn das Verständnis für ein Werk schließt auch ein realistisches Bild des Kontextes ein, in dem es entstanden ist. Und dazu gehört natürlich auch sein Schöpfer, einschließlich seiner Ansichten und Motivation. Natürlich gibt es unzählige Wege, sich diesem Verständnis zu nähern – Steine, Flaschen und Vasen, die gesammelt werden und wurden, erscheinen dabei allerdings als eine relativ ungefilterte, unverfälschte und greifbare Ressource.

„Mon univers“ sorgt nicht nur für eine lebhafte und zuweilen erhellende Reise durch die Le Corbusier-Biographie, sondern ist auch eine Ausstellung, die verdeutlicht, wie sonst alltägliche, uninteressante und leicht zu ignorierende Objekte zu einem Verständnis von Le Corbusiers Werk beitragen können. Den Ausstellungsbesuchern wird ermöglicht, sich von dem allzu ernsten, strengen und üblichen Bild Le Corbusiers zu lösen. Man versteht, dass Le Corbusier mehr ist als seine Gebäude, auch wenn er in all seinen Gebäuden steckt – ganz gleich, ob Jugendstilvilla im Jura-Gebirge oder Stahl-Glas-Pavillon am Rande des Zürichhorns.

„Mon univers“ läuft bis Sonntag, den 17. November im Pavillon Le Corbusier, Höschgasse 8, 8008 Zürich. Ausführliche Informationen finden Sie unter https://pavillon-le-corbusier.ch.

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