Mit der Ausstellung “Stühle. Nur für Kinder!” erkundet das Grassi Museum für Angewandte Kunst, Leipzig, die Geschichte und Entwicklung von Sitzmöbeln für Kinder. Dabei werden nicht nur Einblicke in eine häufig unterschätzte Möbelgattung gewährt, die Ausstellung zwingt den Besucher auch neue Antworten auf die vermeintlich sehr einfache Frage “Was ist ein Stuhl?” zu suchen.
Obwohl auch Kinder immer schon gesessen haben, saßen sie den Großteil der Geschichte auf Möbeln, die für Erwachsene gebaut wurden. Man betrachtete sie eben lange Zeit nur als kleine Versionen der Erwachsenen. Kinder, wie wir sie heute verstehen, gab es in der europäischen Gesellschaft einfach viele Jahrhunderte lang nicht.
Im Laufe des späten 19. Jahrhunderts begannen Kinder, wenn auch zunächst nur sehr, langsam, in der (europäischen) Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Sie eroberten ganz langsam ihren eigenen, besonderen Platz in der Gesellschaft. Analog dazu begann man Stühle zu entwickeln und zu gestalten, die auf die besonderen Bedürfnisse und Ansprüche von Kindern abgestimmt sein sollten. Das betrifft natürlich vor allem die besonderen Maßstäbe von Kindern.
Letzteres wird durch ein Trio von Thonet-Kinderstühlen aus dem späten 19. Jahrhundert demonstriert, die den Besucher in “Stühle. Nur für Kinder!” begrüßen. Diese zählen nicht nur zu den frühesten kommerziell hergestellten Kinderstühlen, sie machen neben zahlreichen anderen kommerziellen und anonymen Werken aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch deutlich, dass die ersten Kinderstühle nur verkleinerte Versionen von Stühlen für Erwachsene waren. Man reagierte hier zwar auf den Größenunterschied zwischen Kindern und Erwachsenen, ging aber auf die anderen Besonderheiten nicht ein. Die Form folgte der Funktion – nur, dass es sich hier um eine sehr enge, unreflektierte Definition von Funktion handelte.
Dieser Zustand sollte sich jedoch ändern.
Basierend auf einer Sammlung von rund 400 Kinderstühlen von Gisela Neuwald zeichnet “Stühle. Nur für Kinder!” in einer weitgehend chronologischen Erzählung die Entwicklung von Kinderstühlen vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach. Ausgehend vom späten 19. Jahrhundert folgt die Ausstellung der Entwicklung über die Moderne der 1920er Jahre, den Wirtschaftsboom der 1950er Jahre, die Rebellion der 1960er Jahre, über Ökologie und Soziologie der 1970er Jahre und die Postmoderne der 1980er Jahre bis ins 21. Jahrhundert.
Diese Entwicklung durchläuft also die bekannten Epochen des 20. Jahrhunderts. Nähert man sich diesen Epochen allerdings ausgehend vom Design von Kinderstühlen, eröffnen sich ganz andere Perspektiven – nämlich Perspektiven eines Kindes. Zu diesem Perspektivwechsel sind Erwachsene viel zu selten in der Lage, auch wenn es sich dabei, wie die Ausstellung anmahnt, um eine lohnendes Unterfangen handelt zu dem sich Erwachsene regelmäßig überwinden sollten.
Die Ausstellung macht deutlich, dass sich mit der Entwicklung der Rolle von Kindern in der europäischen Gesellschaft auch die Funktionen von Kinderstühlen verändert hat. Der Schwerpunkt lag jetzt nicht mehr nur darauf, dass ein Kind sitzen kann, sondern dass es auch einfach Kind sein kann. Abgesehen von Materialien und Konstruktionsprinzipien handelt es sich dabei um eine sehr eigenständige Entwicklung, die tatsächlich auf die sehr realen Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern eingegangen ist.
Die Ausstellung macht in diesem Zusammenhang kurze Abstecher zu Themen wie Kinder-Hochstühlen und Schulstühlen. Die frühesten Beispiele von Kinderhochstühlen dienten, wie die Ausstellung anmerkt, allein dazu, das Füttern von Kindern zu erleichtern, das heißt den Erwachsenen den Zugang zum Kind zu erleichtern. Später wurden diese Modelle speziell dafür entworfen, dass Kinder mit Erwachsenen und älteren Geschwistern am Tisch sitzen konnten. Bei Schulstühle handelt es sich, wenn man so will, um Bürostühle für Kinder. Hier reicht das Repertoire von den festen Tisch/Bank-Kombinationen vergangener Zeiten bis hin zu modernen, individuellen Schulstühlen. Diese Entwicklung spiegelt die Veränderungen der Bildungspraxis, des Betriebs und der Verwaltung von Schulen wider.
In ihrem Verlauf kommt die Ausstellung immer wieder zu den ursprünglichen Kinderstühlen – den kleineren Versionen von Stühlen für Erwachsene zurück: Neben der direkten Gegenüberstellung von Erwachsenen- und Kinderversionen von Stühlen von Arne Jacobsen, Egon Eiermann oder Verner Panton findet man in der Ausstellung Kinderversionen von Erwachsenenstühlen von u.a. Mart Stam, Mogens Koch, Giandomenico Belotti oder Robin Day. Für die Kuratoren schließt sich hier die Frage an, ob man das einfach so machen kann. Kann man einen Erwachsenenstuhl einfach auf die Größe eines Kindes reduzieren? Beeinträchtigt die Verkleinerung eines Stuhls von Erwachsenen- auf Kindergröße die formal-ästhetische Komposition des Werks?
Der direkte Vergleich von Erwachsenen- und Kinderstühlen bietet die Möglichkeit, genau darüber nachzudenken und beide Versionen als eigenständige Werke im Zusammenhang zu betrachten.
Hier stellt sich also die angemessene Frage, ob ein Stuhl, der für einen Erwachsenen entworfen wurde, automatisch auch für ein Kind geeignet ist.
Im späten 19. Jahrhundert fiel auch Thonet nichts besseres ein, als den Maßstab der bestehenden Stühle zu verkleinern, da das Verständnis des Begriffs „Kind“ für einen alternativen Ansatz noch nicht weit genug fortgeschritten war. Ganz anders heute – was uns natürlich zu der Frage bringt, warum heute immer noch Stühle für Erwachsene auf Kindermaßstäbe übertragen werden?
Die Ausstellung “Stühle. Nur für Kinder!” macht deutlich, dass das nicht sein muss und dass man mit einem zeitgemäßen Verständnis von „Kind“ Stühle für Kinder entwickeln kann, deren Form nicht den funktionalen Anforderungen der Erwachsenen folgt, sondern den spezifischen, funktionalen Anforderungen von Kindern. Hier geht es vielmehr um Spaß, Interaktion, Ansprechbarkeit, Farbe, Fantasie, Sicherheit, Taktilität, Abenteuer, Zugehörigkeit und Spiel etc. . Es sollte um eine Welt ohne Erwachsene und ihre Regeln, Vorurteile und Distinktionen gehen.
Mit ihrem Fokus auf Kinderstühlen und den sich daraus ergebenden Reflexionen über die Welt der Kinder bildet die Ausstellung “Stühle. Nur für Kinder!” ein überwiegend europäisches, und damit eurozentrisches Verständnis des 20. Jahrhunderts und der Stellung des Kindes in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts ab. Damit nimmt die Ausstellung eine privilegierte Perspektive ein, und thematisiert ein Ideal der Beziehung zwischen Kindern und Gesellschaft, das für viele Kinder innerhalb und außerhalb Europas nie zutraf und nicht zutrifft. Armut, Krieg, Patriarchat und ähnliche Missstände, die längst hätten überwunden werden sollen, verwehren ihnen die Teilhabe an diesen Privilegien.
Trotz all der interessanten, informativen und höchst unterhaltsamen Einblicken in die Geschichte der Sitzmöbel, ist die Ausstellung daher auch eine wichtige Erinnerung an die immanente Ungleichheit in der globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Als solche fordert sie uns auf, unseren Teil zu einer Zukunft beizutragen in der jedes Kind eine Kindheit hat. Gemeint ist hier nicht etwa eine Zukunft in der jedes Kind mit den Stühlen vertraut ist, die in “Stühle. Nur für Kinder!” zu sehen sind, aber in der jedes Kind auf die kindspezifischen, kindgerechten Funktionen eines Kinderstuhls zugreifen kann.
Dabei geht es um eine Funktionalität, die Kindern und der Kindheit entspricht, von der aber, wie viele der ausgestellten Arbeiten zeigen, auch Erwachsene lernen können. Das wird vielleicht am elegantesten von Luigi Colanis Zocker Kinderstuhl für Kinderlübke verdeutlicht: ein Sitzmöbel, das später zu einem Objekt für Erwachsene vergrößert wurde. Die spielerische, freie Herangehensweise an die Benutzung ergibt sich aus den Bedürfnissen und Anforderungen von Kindern. Der Benutzer ist so nicht nur gezwungen akzeptierte Konventionen – in physischer und konzeptioneller Hinsicht – zu brechen, sondern hat so auch eine Bewegungsfreiheit, die das steife Sitzen mit all den damit verbundenen Gefahren verhindert.
Gisela Neuwald legt Wert darauf, dass ihre Sammlung nicht als Sammlung im strengeren Sinne, sondern eher als eine Ansammlung verstanden wird, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat und nicht methodisch und zielgerichtet aufgebaut wurde. Vor allem handelt es sich auch um eine Ansammlung, die bei Familie Neuwald zu Hause untergebracht und in das häusliche Leben integriert ist. Das betraf vor allem zuerst die eigenen Kinder und jetzt die Enkel. Aber auch Gisela Neuwald selbst benutzt ihre Objekte täglich, nicht nur zum Sitzen, sondern für alle möglichen alltäglichen Aufgaben und in sehr unterschiedlicher Funktion.
Jetzt steht diese Ansammlung, oder zumindest ein großer Teil von ihr, im Grassi Museum für Angewandte Kunst, und zwar auf Sockeln.
Diese sehr widersprüchlichen Kontexte erinnern uns sehr an die Argumente von Hella Jongerius und Louise Schouwenberg in der Ausstellung “Beyond the New” in der Neuen Sammlung München. Dort hieß es, dass Möbel, die in einem Museum auf Sockeln stehen ihrer Daseinsberechtigung beraubt werden. Hella Jongerius erklärte: „alltägliche Dinge existieren immer in Beziehung zu anderen Dingen und sobald man sie von ihrer Funktion und ihrem sozialen Kontext isoliert, werden sie zu einem Objekt. Und wie betrachtet man ein Ding, das zum Objekt geworden ist, das als Objekt keinen Wert mehr hat?“
Diese Frage, trifft auf “Stühle. Nur für Kinder!” besonders zu und ist in der Ausstellung allgegenwärtig. Der spezifische Kontext in dem die Objekte normalerweise benutzt werden sollen, steht im krassen Kontrast zum Ausstellungskontext. Wenn es ein Möbelstück gibt, das nicht auf einem Sockel isoliert werden sollte, dann ist es sicherlich ein Kinderstuhl. Diese Tatsache macht “Stühle. Nur für Kinder!” zu einer guten Gelegenheit für Überlegungen zur Rezeption von Möbeln in Museen und zur Kontextualisierung von Gebrauchsgegenständen.
Das Grassi Museum für Angewandte Kunst geht auf diese Fragestellung zum Teil ein, indem es ein halbes Dutzend Stühle nicht auf Sockeln präsentiert, sondern frei zur Verfügung stellt.
Das hat uns sehr gut gefallen und wir würden uns wünschen, dass mehr Ausstellungen so etwas im Zusammenhang mit Stühlen für Erwachsene anbieten. Denn nur durch den Gebrauch, durch Interaktion, kann man einen Stuhl vollständig verstehen und schätzen lernen.
“Stühle. Nur für Kinder!” ist eine intelligent zusammengestellte Ausstellung, die es schafft, eine ungeheure Anzahl von Stühlen auf relativ kleinem Raum zu versammeln, ohne dass man sich überfordert fühlt, und der es gelingt die Entwicklung der Rolle von Kindern in der (europäischen) Gesellschaft anschaulich zu machen. Besonders erfreulich ist, dass die große Mehrheit der Stühle zwar auf Sockeln steht, aber auf niedrigen Sockeln; die Stühle werden also auf Kinderhöhe präsentiert. Hier stellt sich eine sehr schöne Analogie zum Thema her.
Ebenso erfreulich wie die niedrige Präsentation ist die große Vielfalt der ausgestellten Stühle, eine Mischung aus anonymen Arbeiten und Werken international renommierter DesignerInnen und ArchitektInnen, aus High-End und Low-End.
“Stühle. Nur für Kinder!” ist noch bis Sonntag, 3. Oktober, im Grassi Museum für Angewandte Kunst, Johannisplatz 5-11, 04103 Leipzig, zu sehen.
Parallel dazu zeigt das Grassi Museum für Angewandte Kunst auch “Cultural Affairs. Kunst ohne Grenzen.”
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