„Mimesis. Lebendiges Design“ im Centre Pompidou-Metz

In seiner Peoetik argumentiert Aristoteles, dass die Poesie aufgrund zweier dem Menschen innewohnender Instinkte entstanden sei: dem „Instinkt für Harmonie und Rhythmus“ und dem „Instinkt der Nachahmung“. Die Nachahmung, eher im Sinne von Repräsentation statt Kopie, ist nach Aristoteles die Methode, durch die der Mensch lernt, und das Lernen bereite dem Menschen “das lebendigste Vergnügen“.

Zwar sind für Aristoteles alle Formen der Poesie „in ihrer allgemeinen Konzeption Modi der Nachahmung“, (wiederum im Sinne von Repräsentation und nicht Kopie), „sie unterscheiden sich jedoch in dreierlei Hinsicht voneinander – dem Medium, den Gegenständen, der Art und Weise oder dem Modus der Nachahmung“.1

Mit der Ausstellung “Mimesis. Lebendiges Design” betrachtet das Centre Pompidou-Metz Designer als Nachahmer der Natur und erforscht die unterschiedlichen und sich ständig weiterentwickelnden Medien, Objekte und Arten oder Modi dieser Nachahmung.

Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

“Mimesis. Lebendiges Design” im Centre Pompidou-Metz

Der Begriff Mimesis (μίμησις), übersetzt so viel wie Nachahmung, wurde wohl zuerst von Platon erörtert, der allgemein der Meinung war, dass alles in unserer physischen Welt nur eine unvollkommene Nachahmung von Archetypen, die Darstellung einer höheren Form sei. Nachdem der Begriff dann von Aristoteles aufgegriffen wurde, entwickelte sich Mimesis im Laufe der Jahrhunderte zu einem viel diskutierten Thema unter Philosophen, Literatur- und Kunstkritikern und ihresgleichen.

Die Ausstellung “Mimesis. Lebendiges Design”  nimmt die Besucher mit auf eine im Wesentlichen chronologische Reise durch die letzten 100 Jahre Design, dabei geht es vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, um Möbeldesign. Diese chronologische Reise beginnt jedoch in den 2000er Jahren mit dem Kapitel “Grotesken”. Wir werden dieses  Eröffnungskapitel jedoch als Endkapitel behandeln. Die Ausstellungsbesucher betreten und verlassen die Ausstellung in jedem Fall durch das Kapitel “Grotesken”.

Dabei handelt es sich um eine Art Kuriositätenkabinett, das zwar kein Horn eines Einhorns enthält, wie es früher in jedem Kuriositätenkabinett zum Standard gehörte, aber die Sammlung von Objekten, Büchern und Projekten umfasst, die, wenn man so will, Verbindungen zwischen Kreativität und der Entwicklung des Verständnisses von Wissenschaft und Natur in den letzten 100 Jahren aufzeigen. Dazu gehören beispielsweise Fotografien und Filme von Albert Renger-Patzsch, Germaine Dulac oder Brassaï aus dem frühen 20. Jahrhundert, zeitgenössische Objekte von Mathieu Lehanneur, Marcel Wanders oder Aldo Bakker, sowie ein winziger Roboter-Rochen, der von der Disease Biophysics Group der Harvard University aus einer Kombination von Gold, Algenprotein, Kunststoff und Rattenherzmuskelzellen entwickelt wurde.

So gibt dieses Kuriositätenkabinett in vielerlei Hinsicht auch einen Ausblick auf das, was noch kommen wird.

Venus by Tokujin Yoshioka, a chair grown through crystallisation, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

“Venus” von Tokujin Yoshioka, ein durch Kristallisation gewachsener Stuhl, zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

So richtig beginnt die chronologische Reise der Ausstellung mit dem Kapitel “Biomorphismus”. Dieser Abschnitt der Ausstellung beginnt wiederum mit der Behauptung, dass „in Skandinavien in den frühen 1920er Jahren die Arbeit von Alvar und Aino Aalto die Grundlagen schuf für ein organisches Design mit humanistischem Ansatz – für ein Design, das von der Beziehung zwischen Mensch und Natur inspiriert war“. Diese Behauptung kann man zwar aufstellen, sie ignoriert jedoch viele Designer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sehr wohl „von der Beziehung zwischen Mensch und Natur inspiriert“ waren und die ebenfalls nach humaneren Ansätzen suchten. Viele von diesen Designern haben die Natur oft bis ins Absurde und Extreme nachgeahmt. Während die Vertreter des Jugendstils versuchten, die harten Kanten der Industrialisierung des späten 19. Jahrhunderts durch die Praxis der Möbelherstellung ebenso wie durch die Objekte selbst humaner zu machen, versuchten die Aaltos die harten Kanten der internationalen Moderne menschlicher zu machen, indem sie aktiv Holz bei ihren Möbeln einsetzten und nicht das gebogene Stahlrohr der internationalen Moderne.2

Das gebogene Stahlrohr wurde hingegen zuvor von Charlotte Perriand befürwortet, die 1929 die Meinung vertrat, dass Holz als „pflanzliche Substanz, […] von Natur aus dem Verfall preisgegeben ist“ und daher für zukunftsweisende Möbel ungeeignet war.3 Erst im Laufe der 1930er und 40er Jahre begann sie, die Vorzüge und Vorteile nicht nur pflanzlicher, sondern organischer Stoffe aller Art zu schätzen. Diese sich entwickelnde Wertschätzung Perriands für natürliche Stoffe wird in “Mimesis” anhand von Perriands Naturfotografien dargestellt.  Dazu zählen Perriands Porträts von in der Natur vorkommenden Objekten aus den 1930er Jahren und auch Arbeiten aus ihrer Zeit in Japan aus den 1940er und 50er Jahren. Diese Zeit ist auch durch Werke der japanischen Designer Kenzō Tange, Ubunji Kidokoro und Sōri Yanagi vertreten. Letzterer diente Perriand als Assistent während ihrer Zeit in Japan und war in den frühen 1940er Jahren externer Berater der japanischen Regierung für die Entwicklung des lokalen Handwerks. Die Erfahrungen dieser Zeit veranlassten Perriand dazu, die von ihr und Le Corbusier und Pierre Jeanneret entworfene Chaiselongue aus Stahlrohr und Leder aus Bambus nachzubilden. Ein Akt, der sicherlich sowohl Platon als auch Aristoteles zum Nachdenken angeregt hätte.

Works by (right to left) Ubunji Kidokoro, Kenzō Tange, Sōri Yanagi and Charlotte Perriand, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Werke von (von rechts nach links) Ubunji Kidokoro, Kenzō Tange, Sōri Yanagi und Charlotte Perriand, zu sehen in „Mimesis. Lebendiges Design“, Centre Pompidou-Metz

Von Finnland über Frankreich nach Japan überquert die Ausstellung mit dem Abschnitt “Biomorphismus” den Pazifik, um ihre Diskussion im Kontext dessen fortzusetzen, was man als Entwicklung eines organischen Designansatzes bei amerikanischen Designern der Nachkriegszeit bezeichnen könnte. Zu diesen Designern zählen George Nelson, Harry Bertoia und die Eames, von denen letztere unter anderem mit Tafeln ihrer Wanderausstellung “Fibonacci: Growth and Form for IBM” aus dem Jahr 1972 vertreten sind. Damit liefert die Ausstellung auch eine willkommene Erinnerung daran, dass Charles und Ray so viel mehr waren als nur Möbeldesigner. 

Die Welttournee von “Biomorphismus” endet schließlich nach einem kurzen Abstecher nach Italien wieder in Skandinavien mit “Vena Cuprum”, einem vergänglichen, flüchtigen, monumentalen und fesselnden Werk der norwegischen Textildesignerin Gjertrud Hals, die hier ein Netzwerk von Blutgefäßen aus Kupferdraht, Eisendraht und Pappmaché nachgebildet hat. Dazu kommt ein 1953/54 entstandener Prototyp für einen geformten, gefalteten, lässig gequetschten Aluminiumstuhl von Poul Kjærholm. Dieser Kjærholm-Stuhl steht zwar nicht im Gegensatz zu dem, wofür der Designer allgemein bekannt ist, aber repräsentiert tendenziell einen anderen Ansatz und liefert so wiederum einen Ansatz für ein potenziell anderes Verständnis von Kjærholm.

Und dann, wie so oft in der Geschichte des Designs, wurde “Organic” zu Pop.

Works from the chapter Biomorphism, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Werke aus dem Kapitel Biomorphismus, zu sehen in “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

Doch wie Mimesis andeutet, führte die “Verpoppung” des (Möbel-)Designs nicht dazu , dass Assoziationen mit der Natur und Reflexionen über sie weniger wurden. In vielerlei Hinsicht hat sich diese Tendenz sogar noch verstärkt. Wenn auch auf abstraktere Art und Weise, als es vor dem Aufkommen der Popkultur der Fall war.

Dieser Einfluss des Pop, die Verschiebung der Position und der Herangehensweise an eine Abstrahierung der Natur, kann bei “Mimesis” anhand von Werken von Olivier Mourgue, Gaetano Pesce, Nathalie du Pasquier oder natürlich Verner Panton verfolgt werden. Außerdem anhand zweier Landschaften, zweier (mehr oder weniger) immersiver Räume. Pierre Paulins “Déclive” von 1968 ist zwar im Grunde nur eine offene Struktur, schafft aber sehr wohl einen Raum im Raum. Bei Superstudios “Bazaar” von 1969/70 handelt es sich um einen Raum im Raum in Form eines Mohn-Samenkopfs in dem man sitzen kann.

In dem Maße, in dem sich das Design und die Gesellschaft von der kühnen Rebellion der 1960er und 1970er Jahre entfernten, kam es dann zu einer erneuten Verschiebung.

Die Ausstellung macht deutlich, dass Designer nach dem Verblassen von Pop, begannen, die Natur auf viel direktere Weise zu zitieren.

Diese im Wesentlichen postmoderne Verschiebung wird nicht nur durch Superstudios “Bazaar” als Vorbote kommender Entwicklungen unterstrichen, sondern auch durch Leute wie Andrea Branzi oder Philippe Starck im Kapitel “Nature at Work”. Letzterer ist mit seinem W.W.-Hocker von 1988 vertreten. Dabei handelt es sich um eine idealisierte Baumwurzel aus Aluminium, die als eine Art Sitzstange fungiert.  

Diese Arbeit macht auf jeden Fall den Unterschied zwischen direkter Verwendung und Zitat deutlich. 

Die postmoderne Verschiebung wurde wiederum von späteren Generationen übernommen. Eine Entwicklung, die wiederum der immer wieder einnehmende Raumteiler “Algue” von Ronan und Erwan Bouroullec besonders anschaulich macht. Wir haben diese Arbeit zuvor noch nie im Kontext der Postmoderne betrachtet.

Déclive by Pierre Paulin (l) and Bazaar by Superstudio (r), as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

“Déclive” von Pierre Paulin (l) und “Bazaar” von Superstudio (r), zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

Mimesis endet mit zwei, eigentlich vier, Kapiteln über die zeitgenössischen Beziehungen zwischen Natur und (Möbel-)Design: “Digital Re-creation”, “Bio-manufacture” und die bereits erwähnten “Grotesken”. 

In diesen Kapiteln geht es um neuartige Materialien, neuartige Produktionsverfahren und  neuartige Konstruktionsansätze, die sich aus der Natur und natürlichen Prozessen ergeben oder diese nachahmen. Die Ausstellung behandelt diese Themen anhand von Projekten von so unterschiedlichen Designern wie Olivier van Herpt, Samuel Tomatis, Lilian van Daal, Ross Lovegrove oder Tokujin Yoshioka. Dann endet die Ausstellung mit dem Kuriositätenkabinett vom Anfang, das man am Ende noch einmal besuchen sollte. 

Nicht zuletzt, weil einem die Betrachtung des Kabinetts im Kontext all dessen, was man in der Zwischenzeit gesehen hat, ermöglicht, das Ausmaß, in dem Entwicklungen außerhalb des Designs mit Entwicklungen innerhalb des Designs zusammenhängen, sowie die Beziehungen zwischen Design und anderen kreativen, wissenschaftlichen, technischen oder philosophischen Praktiken viel besser zu verstehen. 

Ausstellungsbesucher können so über die Frage nachdenken, ob neuartige Entwicklungen wie Röntgenstrahlen oder Makrofotografie einst wichtig waren, um die Natur zu verstehen oder um sie zu imitieren. Wohin könnten beispielsweise künstliche Intelligenz, Proteinsequenzierung, ein winziger Roboterrochen oder andere noch unbekannte Dinge das Design in der Zukunft führen, es positiv und/oder negativ weiterentwickeln? Auch wenn Aristoteles das „lebendigste Vergnügen“ preist, das Lernen und Nachahmen dem Menschen bereiten, sollten wir immer Platons Warnungen vor den Gefahren der Nachahmung im Hinterkopf behalten.4

Auf dem Weg dorthin macht die Ausstellung drei kleine Umwege, einen zu dem französischen Lichtdesigner Serge Mouille aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, einen zweiten durch eine Auswahl von Ronan und Erwan Bouroullecs “Rêveries Urbaines”; und einen dritten durch zwei Präsentationen von Chaiselongues. Bei der einen Präsentation handelt es sich im Wesentlichen um analoge Werken aus der Zeit vor dem Krieg von Bruno Mathsson, Hans J. Wegner und Alvar Aalto, die zweite zeigt im Wesentlichen hochtechnisierte Werke der Nachkriegszeit von Aurélie Hoegy, Joris Laarman und Charles & Ray Eames. Diese Präsentationen fassen die sich ständig verändernde Grundlage der Beziehungen zwischen Natur und Design und die sich ständig verändernde Grundlage der Nachahmung der Natur durch das Design, wie sie in Mimesis erörtert wird, auf sehr anschauliche Art und Weise zusammen.

Es kann hilfreich und informativ sein, sich der Natur aus einer aristotelischen Perspektive zu nähern.

An invitation to stroll through Ronan and Erwan Bouroullec's Rêveries Urbaines, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Eine Einladung zu einem Spaziergang durch die “Rêveries Urbaines” von Ronan und Erwan Bouroullec, zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

„Die „Natur“, so argumentiert Aristoteles in seiner Physik, kann als „Materie“ oder als „Form“ verstanden werden5. Damit führt er zwei der vier Ursachen des Aristoteles ein – Aristoteles‘ Theorie der Kausalität und die Theorie des Warum, und Argumente über Form, Material und Natur, die ihn zu den Fragen bringen: „Welcher der beiden Aspekte der Natur ist es, der die Aufmerksamkeit des Physikers beansprucht? Oder ist sein Gegenstand das Kompositum, das beide vereint?“6

Und ist es die Form oder das Material, das die Aufmerksamkeit des Designers beansprucht? Ist es die Nachahmung der Formen oder der Materialien der Natur, die die Aufmerksamkeit des Designers beansprucht? Oder ist der Gegenstand des Designers das Kompositum?

Bei der Betrachtung von “Mimesis” hat man den Eindruck, dass natürliche Formen für den die Natur nachahmenden Designer ohne Frage relevant waren und es nach wie vor sind. Viel wichtiger aber, und das in zunehmendem Maße, scheinen die Struktur und das Konstruktionsprozess, die der Form zugrunde liegen, zu sein. Das heißt in der Natur, und durch Nachahmung auch beim Design, kann die Form der Funktion folgen oder auch nicht. Immer aber folgt die Form der Konstruktion. Diese Überlegung erlaubt auch eine Reflexion über die Tatsache, dass die fließenden Kurven des Pop, jene Designformen, die am meisten mit natürlichen Formen assoziiert werden, (größtenteils) durch synthetische Kunststoffe ermöglicht wurden. Ein anorganisches Material hat es also ermöglicht, Formen herzustellen, die sehr viel organischer waren, als es zuvor durch Nachahmung der Natur im Möbeldesign möglich war. 

Dieser Umstand verdeutlicht auch in der Ausstellung die Schlüsselrolle, die den Materialien bei der Entwicklung von Design, das heißt bei der Entwicklung unserer Gebrauchsgegenstände, zukommt. Das Holz, aus dem wir seit Jahrhunderten Möbel herstellen, dominiert, wenig überraschend, die ersten Teile der Zeitlinie von Mimesis, bevor es im Verlauf der Ausstellung durch immer neue Materialien ergänzt wird, wie es auch in Zukunft der Fall sein wird.

Als Ausstellung trägt Mimesis mit dem konzentrierten Fokus auf Design und Natur auch dazu bei, Gedanken über eine andere, weniger poluläre, aber nicht weniger wichtige Beziehung zwischen Design, insbesondere Industriedesign, und Natur anzuregen. Immer wieder stellt sich nämlich die Frage: Warum lassen Designer angesichts der vielfältigen Inspirationen, die die Natur für das Design bereithält, zu, dass ihre Arbeit so negative Auswirkungen auf die Umwelt hat? Designer sind in keinem Raum und in keiner Zeit neutral.

Gedanken und Fragen, die auch in den Überlegungen enthalten sind, die in “Mimesis” zu den anderen beiden der vier Ursachen des Aristoteles angestellt werden: „der Zweck oder das Ziel und die Mittel zu diesem Zweck“.7

Works from the chapter Digital re-creation, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Werke aus dem Kapitel „Digital re-creation“, zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

Beim Betrachten der Ausstellung wird einem auch klar, dass im Zusammenhang mit Design nicht nur der Designer ein entscheidender Akteur ist, sondern auch der Wissenschaftler, der Ingenieur und die Gesellschaft im weiteren Sinne an der Entstehung eines Objekts beteiligt sind.  

Oder anders ausgedrückt: Im Laufe der Präsentation, über die etwa einhundert Jahre der Zeitachse von Mimesis, kann man verfolgen, wie sich technologische, wissenschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen auf das Design ausgewirkt haben und den Designern immer mehr Optionen, immer neue Herangehensweisen eröffneten. Neue Wege wurden aufgezeigt, Beschränkungen, Kompromisse und Missverständnisse in den Werken früherer Generationen entlarvt und auch auf Probleme der heutigen Generationen wurde hingewiesen. Diese technologischen, wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen stammen zwar nicht immer direkt von und aus der Natur, aber hängen oft mit Entwicklungen in unseren Beziehungen zur Natur zusammen. Hier wird deutlich, dass die Beziehungen zwischen Design und Natur in vielerlei Hinsicht ein Bestandteil sich entwickelnder Gesellschaften sind. Wir werden in Zukunft zwar vieles von dem, was ist und sein wird, im Hinblick auf die Herstellung unserer Gebrauchsgegenstände neu bewerten, ein Zurück zu dem, was war, ist allerdings keine Option und wird wohl auch in Zukunft keine sein. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, den Weg, auf dem wir uns befinden, sorgfältig zu prüfen und kritisch zu hinterfragen. 

Algae by Ronan & Erwan Bouroullec (l), Fallen Tree bench by Ymer&Malta and Benjamin Graindorge (m) & Tree 5 shelving by Andrea Branzi, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

„Algae“ von Ronan & Erwan Bouroullec (l), „Fallen Tree bench“ von Ymer&Malta and Benjamin Graindorge (m) & „Tree 5 shelving“ von Andrea Branzi, gesehen bei „Mimesis. Lebendiges Design“, Centre Pompidou-Metz

Und die andere Ursache? Der „Zweck oder das Ziel“, das „Warum erschaffen wir etwas?”

Diese Frage wird in Mimesis nicht direkt angesprochen. Zweifellos aber stellt sie sich jeder Designer täglich, und zwar als Selbstverständlichkeit, bevor er ein Projekt in Angriff nimmt, denn das Überflüssige gibt es in der Natur nicht, oder um bei Aristoteles zu bleiben: „… Gott und die Natur schaffen nichts, was nicht einen Zweck erfüllt“8. Und das ist zweifellos die Art der Nachahmung der Natur, insbesondere der aristotelischen Natur, die heute für uns am meisten Aktualität besitzt.

Es könnte durchaus sein, dass wir, nachdem wir die Natur im letzten Jahrhundert vor allem in Bezug auf Form und Material (und Mittel) nachgeahmt haben, zunehmend dazu übergehen, die Natur zu imitieren, indem wir im Voraus die Notwendigkeit oder das Gegenteil dessen, was wir tun, definieren. Eine Entwicklung hin zu einer verstärkten Konzentration auf den „Zweck oder das Ziel“, die man im Kontext sich entwickelnder sozialer und kultureller Kontexte und Positionen verstehen kann. Damit ist das oben erwähnte, durch Mimesis geförderte Verständnis sich ständig weiterentwickelnder Beziehungen zwischen Design und Natur als Bestandteil sich ständig entwickelnder Gesellschaften gemeint.

Diese Entwicklung hin zu einer verstärkten Konzentration auf den „Zweck oder das Ziel“ würde zudem eine Abkehr von der verfluchten Objektivierung von Design bedeuten. Weg von der Nachahmung im Design als Kopieren und nicht als Darstellen. Weg von der Nachahmung im Design als Kommerz und nicht als Kultur. Denn Nachahmung wird meist nicht als Weg zum Lernen aufgefasst, sondern nur als Weg zu einem (erhofften) Profit. Die verstärkte Konzentration auf den “Zweck oder das Ziel” wird bei “Mimesis” durch die vielen kurzen Texte gefördert, die die Objekte, ihre Entstehung, die Positionen und Kontexte, in denen und aus denen sie sich entwickelt haben, beschreiben. Sie unterstützen damit nicht nur die Betrachtung der Ausstellung erheblich, sondern tragen auch dazu bei, die Aufmerksamkeit auf das einzelne Objekt zu lenken, das mehr ist als Form und Material. Damit ermöglichen sie Überlegungen und Reflexionen darüber, was Design ist, über den Platz und die Funktion von Design in der Gesellschaft im Laufe der rund 100 Jahre der Zeitachse von Mimesis und in den kommenden Jahrzehnten.

Oder anders ausgedrückt: Was waren die menschlichen Instinkte, die zur Entstehung von Design geführt haben? Vielleicht ein „Instinkt für ‚Harmonie‘ und Rhythmus“? Und welche Instinkte muss das Design befriedigen, wenn es relevant bleiben soll? Was passiert, wenn andere Instinkte befriedigt werden? Was wird dann aus unseren Gegenständen des täglichen Gebrauchs? Aus unseren Gesellschaften?

Das sind keine Fragen für einen Platon oder einen Aristoteles, sondern für uns alle, individuell und kollektiv.

Late 1950s metal lamps by Serge Mouille, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Metalllampen von Serge Mouille aus den späten 1950er Jahren, zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

Die dreisprachige Präsentation (französisch, englisch, deutsch) in einem von Shigeru Ban und Jean de Gastines entworfenen Gebäude, das auch etwas von einem Rochen hat und durch seine vielen Bezüge zur Natur als Teil der Präsentation betrachtet werden kann, ist eine der besonderen Freuden von “Mimesis”. Sie bietet eine große Vielfalt an Objekten, Projekten und Positionen aus den letzten rund 100 Jahren. Obwohl es sich bei “Mimesis” um eine Ausstellung mit einem Thema handelt, ist es auch eine Ausstellung, die man genießen kann, weil sie die Möglichkeit bietet, viele Werke aus nächster Nähe zu betrachten, denen man nicht jeden Tag begegnet, und in einen Dialog mit Werken zu treten, die man noch nicht kennt. 

Es handelt sich also um eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich mit Design aus Frankreich zu befassen, einem Land mit einer sehr langen Designtradition, das im Laufe der Zeit, die die Ausstellung behandelt, einen großen und wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Design geleistet hat und dies auch weiterhin tun wird. Dennoch wird Frankreich allzu schnell zugunsten Dänemarks, Italiens oder auch Amerikas übersehen. “Mimesis” ist eine Aufforderung, weiter zu schauen als bis zu den wenigen Namen, die man kennt. 

Vor allem aber ermöglicht Mimesis konzentrierte, anregende Überlegungen nicht nur zum Studium der Natur als immanenten Bestandteil der Designgeschichte und des Designs, sondern auch über die vielfältigen und unterschiedlichen Arten, wie die Nachahmung der Natur im Laufe der letzten hundert Jahre zur Entwicklung des (Möbel-)Designs beigetragen hat.

“Mimesis. Lebendiges Design” läuft im Centre Pompidou-Metz, 1, Parvis des Droits de l’Homme, 57000 Metz noch bis Montag, 6. Februar

Ausführliche Informationen, u. a. zu den Öffnungszeiten, den Eintrittspreisen, den aktuellen Hygienevorschriften und zum Rahmenprogramm finden Sie unter www.centrepompidou-metz.fr/mimesis-a-living-design

Works from the chapter Nature at Work, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Arbeiten aus dem Abschnitt „Nature at Work“, zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

Photographs and furniture designs by Charlotte Perriand, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Fotografien und Möbeldesigns von Charlotte Perriand, zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

Form studies and a wall mounted Applique lamp by Serge Mouille, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Formstudien und eine an der Wand installierte Applique Lampe von Serge Mouille, zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

Chaise longues by Bruno Mathsson, Hans J Wegner and "Alvar Aalto", as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Chaiselongues von Bruno Mathsson, Hans J Wegner und Alvar Aalto, zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

Architetti Associati's nautilus impersonating 1953 chair, as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Stuhl aus dem Jahr 1953 von Architetti Associati, zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

Vena Cuprum by Gjertrud Hal alongside chairs by Arne Jacobsen (l) and Poul Kjærholm (r), as seen at Mimesis. A living design, Centre Pompidou-Metz

Vena Cuprum von Gjertrud Hal neben Stühlen von Arne Jacobsen (l) und Poul Kjærholm (r), zu sehen bei “Mimesis. Lebendiges Design”, Centre Pompidou-Metz

1. Aristotle, Poetics, Part 4, Translated by S. H. Butcher, Fourth Edition Macmillan and Co, London, 1922 All translations are our tranlations from Englsih sources, simply because the variability of translation means we can find no German translations that are so equally succinct.

2. see, for example, Alvar Aalto, The Humanizing of Architecture – Functionalism must take the human point of view to achieve its full effectiveness, Technology Review, Volume 43, Number 1, November 1940

3. Charlotte Perriand, Wood or Metal? The Studio Vol 97 No. 433 1929

4. see, for example, Plato The Republic, for all Book III and Book X

5. ibid Book II, Chapter II

6. ibid

7. ibid

8. Aristotle, On the Heavens, Book I Chapter IV, Translated by W. K. C. Guthrie, Harvard University Press/William Heinemann Ltd, 1965

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