Die Geschichte von Architektur und Design ist ein reichhaltiges und komplexes Buffet, das jedoch über Jahrzehnte hinweg in der öffentlichen Wahrnehmung auf ein vereinfachtes, formalisiertes, industriell verarbeitetes Fertiggericht reduziert wurde. Etwas, das man aufwärmt und konsumiert, ohne es wirklich zu genießen.
Ein höchst unglücklicher und ungesunder Zustand, dem wir etwas entgegensetzen möchten – indem wir ein paar Häppchen und Appetithappen aus dem ursprünglichen Smörgåsbord (auch bekannt als schwedisches Buffet) servieren. Nicht, damit Sie damit auf Social Media angeben, sondern um Sie zu ermutigen, weiter zu recherchieren, weiterzulesen, mehr anzusehen, anstatt Phrasen zu verwenden, als hätten sie eine tatsächliche Bedeutung. So können Sie persönlich zur Wiederherstellung der ursprünglichen Pracht, Vielfalt, Lebendigkeit und Komplexität der Architektur- und Designgeschichte beitragen. Damit sie uns nicht nur nährt, sondern auch belebt und stärkt.
Beginnen wir mit dem nicht ganz unpassenden Häppchen – der Neuen Nationalgalerie in Berlin, die von Ludwig Mies van der Rohe ursprünglich auf einer Cocktailserviette skizziert wurde.
Und das in Havanna in Kuba.
Genauer gesagt wurde der Entwurf erstmals 1957 im Rahmen eines Auftrags für ein Verwaltungsgebäude für „Ron Bacardi y Compañía” in Santiago de Cuba entwickelt – ein Auftrag, der persönlich von Bacardi-Präsident José M. Bosch vergeben wurde, nachdem er Mies van der Rohes Crown Hall am Illinois Institute of Technology in Chicago besucht hatte. Bosch erkannte in Mies van der Rohe einen Architekten, der eine Sprache sprach, die er verstand, und der in der Lage war, sein „ideales Büro“ zu realisieren – nämlich eines, „in dem es keine Trennwände gibt, in dem sich alle – sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende – gegenseitig sehen können“✤. Über diese Aussage und darüber, was man unter einem „idealen“ Büro versteht, sollte man natürlich selbst nachdenken – insbesondere im Hinblick auf das Büro als Kontrollinstanz, als Methode der Überwachung, und im Kontext aktueller Debatten um Homeoffice, hybrides Arbeiten, Präsenzpflicht und Maus-Tracker.
Nachdem er den Auftrag angenommen hatte, reiste Mies van der Rohe nach Kuba, um sich das Grundstück anzusehen – mit dem grundsätzlichen Plan, etwas zu bauen, das der Crown Hall sehr, sehr ähnlich sein sollte. Doch sehr schnell wurde ihm klar, dass die Sonne, das Licht und die salzhaltige Meeresluft der Karibik weder physisch noch konzeptionell für ein solches Gebäude geeignet wären. Also begann er, neu zu denken. Ein Prozess, der seinen Eureka!-Moment Anfang Juli 1957 im Gartenhof des Hotels Nacional de Cuba in Havanna hatte, wo Mies wohnte: Inspiriert von Form, Proportionen und den sich wiederholenden Säulen des Arkadengartens bat Mies van der Rohe Gene Summers, einen seiner langjährigen leitenden Mitarbeiter, seine Idee zu skizzieren. Summers griff nach einer nahegelegenen Cocktailserviette und setzte die Worte seines Chefs um. Als Mies die Skizze sah, sagte er: „Nein, das sieht aus wie ein Konsulat, wie etwas von Gropius.“ Autsch!!! Mies schlug vor, einige der Säulen zu entfernen. „Das ist es“, sagte er daraufhin, „gib sie mir.✱
Von dieser Serviette aus wurde die Skizze auf Hotelpapier übertragen und weiter ausgearbeitet, und bald begann in Santiago ein Gebäude aus dem Boden zu wachsen. Doch im September 1960 verstaatlichte Fidel Castro, inzwischen fest in Havanna etabliert, Bacardi: Die Firma hörte auf, eine internationale Marke zu sein, wurde zu einer kubanischen Marke, zu einem Teil der postrevolutionären kubanischen Identität – und der Bau von Mies van der Rohes entschieden internationalem Verwaltungsgebäude wurde eingestellt.
Und nie wieder aufgenommen.
Zumindest nicht in Santiago.
Denn als Mies van der Rohe 1962 den Auftrag erhielt, ein neues Museum für Kunst des 20. Jahrhunderts in Berlin zu bauen, hatte er bereits eine Antwort in seiner Schublade: ein Gebäude, das auf die Arbeiten von Karl Friedrich Schinkel verweist – dem prägenden Architekten des preußischen Berlins im 19. Jahrhundert, einem wichtigen, formenden Einfluss auf den jungen Ludwig Mies van der Rohe. Ein Einfluss, der ihn über Jahre begleitete, sowohl in seiner Architektur als auch in seinem Möbeldesign. Denn was ist die Basis des Barcelona Chairs, den Mies van der Rohe mit Sergius Ruegenberg entwarf, anderes als eine Neuinterpretation von Schinkels stets inspirierendem gusseisernen Gartenstuhl aus dem frühen 19. Jahrhundert – einem seriellen, industriellen Stuhl aus einer Zeit vor der seriellen, industriellen Möbelproduktion? Und ein Gebäude mit einem Innenraum, in dem – um José M. Bosch zu paraphrasieren – es keine Trennwände gibt, in dem jeder alles jederzeit sehen kann. Ob das ein „idealer Museumsraum“ ist? Darüber dürfen wir erneut selbst nachdenken.
So steht seit 1968 das Verwaltungsgebäude für Bacardi y Compañía nicht in Santiago, sondern in Berlin.
Und das auch nur, weil es 1962 nicht in Schweinfurt, Bayern, gebaut wurde.
Aber das ist ein Häppchen für einen anderen Tag. Oder für Ihre eigene Recherche.
Das gilt auch für das Bacardi-Verwaltungsgebäude von Ludwig Mies van der Rohe, das 1962 (vollendet 1961) in Tultitlán, Mexiko, eröffnet wurde. Es spielte eine wichtige Rolle – sowohl in der Geschichte von Bacardi nach der kubanischen Revolution als auch in der Entwicklung von Architektur und Design in einem Land, das im 20. Jahrhundert ebenso stark von internationalen Einflüssen geprägt war, wie es selbst internationale Impulse setzte.
Bauen + Wohnen, September 1959: Bürogebäude der Ron Bacardi & Co. in Santiago, Cuba, 313-315; Verwaltungsbau Bacardi Rum Co. in Mexiko, 316
Bauen + Wohnen, October 1962: Verwaltungsgebäude Ron Bacardi bei Mexico-City, 407-411
Bauwelt Vol. 52, Nr. 13 27. März 1961: Mit einer Hommage an Ludwig Mies van der Rohe zum 75. Geburtstag; Verwaltungsgebäude der Bacardi Rum Gesellschaft in Mexico-City 1958, 368-369; Verwaltungsgebäude der Bacardi Rum Gesellschaft in Santiago de Cuba, Kuba 1958, 370-373
Bauwelt Vol. 53, Nr. 32, 6. August 1962: Verwaltungsgebäude Ron Bacardi, S.A. bei Mexico City, 886-888
Bauwelt Vol. 59, Nr. 38, 16. September 1968: Neue Nationalgalerie Berlin, 1209-1220; Oeter, H & Sontag, H, Das Stahldach der Neuen Nationalgalerie in Berlin, 1224-1226
Carranza, Luis E. & Lara, Fernando Luiz, Modern Architecture in Latin America. Art, Technology, Utopia, The Universiy of Teas Press, Austin, 2014.
Deutsche Bauzeitschrift, Januar 1969: Die Neue Nationalgalerie Berlin, 19-24
Futagawa, Yukio [Ed.] GA Global Architecture, Mies van der Rohe. Crown Hall, ITT, Chicago, Illinois USA 1952-1956. New National Gallery, Berlin, West Germany 1968, A.D.A. Edita Tokyo, 1972.
Jäger, Joachim & von Martin, Constanze, Neue Natonalgalerie. Das Museum von Mies van der Rohe, Staatliche Museeen zu Berlin, Deutscher Kunstverlag, Berlin & München, 2021
Juárez Chicote Antonio, El todo en el fragmento. Arquitectura y Baukunst en Mies Van der Rohe, Cuadernos de Proyectos Arquitectónicos, Núm. 4, 2013, 64-71
Kahlfeldt, Paul & Lepik, Andres, Dreissig Jahre Neue Nationalgalerie Berlin, Berlin, 1998
Kathryn E. O'Rourke, Mies and Bacardi: Mixing Modernism, c. 1960, Journal of Architectural Education, Vol. 66, No. 1, October 2012, 57-71
Krohn, Carsten, Mies Van der Rohe. Das Gebaute Werk, Birkhäuser, Basel, 2014
✤ Lambert, Phyllis [Ed.], Mies in America, Canadian Centre for Architecture, Montreal & Whitney Museum of American Art, New York, Harry N. Abrams, Inc. New York, 2201 Zitatseite 475ff
Lizárraga Sánchez, Salvador, Mies en Tultitlán, Bitácora arquitectura, No. 26, 2016, 83–94
Maibohm, Arne, Neue Nationalgalerie Berlin. Sanierung einer Architekturikone, Jovis, Berlin, 2021
Pica, Agnoldomenico, Mies a Berlino: la "Neue Nationalgalerie Berlin", l'ultima grande opera in Europa di Ludwig Mies van der Rohe, scomparso il 17 agosto, Domus, 478, 1969, 1-5
Schulze, Franz [Ed.], The Mies van der Rohe Archive, Volume Seventeen, Ron Bacardi y Compañía S.A., Administration Building (Cuba) and Other Buildings and Projects, Garland Publishing Inc, New York and London, 1992.
Schulze, Franz [Ed.], The Mies van der Rohe Archive, Volume Eighteen, Ron Bacardi y Compañía S.A., Administration Building (Mexico) and Other Buildings and Projects, Garland Publishing Inc, New York and London, 1992.
✱ Schulze, Franz & Windhorst, Edward, Mies van der Rohe, The University of Chicago Press, 2012 Zitatseite 349