Eine der ersten Designregeln, die man lernt, ist der berühmte Satz von Louis H. Sullivan aus dem Jahre 1896: „Form follows function, and this is the law“.
Erst später erkennt man, dass „Funktion“ kein feststehender Begriff ist, sondern definiert werden muss, damit „Form“ ihr überhaupt sinnvoll folgen kann.
Und noch später begreift man die Komplexität, die in der Definition von „Funktion“ liegt.
Mit der Ausstellung „Nike: Form Follows Motion“ beleuchtet das Vitra Design Museum in Weil am Rhein die Geschichte und das Designverständnis des Unternehmens Nike - und stellt die Frage nach dem Verhältnis von Form und Funktion im Kontext der Nike Produkte.
„Nike: Form Follows Motion“ beginnt, wie die Geschichte von Nike, in den Sportarenen der amerikanischen Leichtathletik der 1960er und 1970er Jahre. Gezeigt werden einige der ersten Produkte und die frühen Protagonisten des Unternehmens, darunter die Mitbegründer Bill Bowerman und Phil Knight: Bowerman war ein erfolgreicher College-Leichtathletiktrainer, Knight ein Wirtschaftswissenschaftler, der zunächst an der University of Oregon und später an der Stanford University studierte. In Oregon war Knight selbst Athlet unter Bowerman, in Stanford beschäftigte er sich mit der Frage, wie man die Marktdominanz von Adidas in den USA brechen könnte. Seine Antwort hieß zunächst Blue Ribbon Sports - und später Nike. Eine Wendung, die der Tatsache, dass Nike inzwischen Adidas als Ausrüster der deutschen Fußballnationalmannschaft abgelöst hat, eine ganz neue Bedeutung verleiht.
Die Ausstellung stellt auch Diane Katz vor, die 1978 als erste Modedesignerin zu Nike kam und das damals noch junge Unternehmen über die ursprünglich von Bowerman und Knight entworfenen Schuhe hinausbrachte. Katz zeichnete für viele der frühen, prägenden Bekleidungskollektionen - darunter die ersten „Air Jordan“-Artikel und die Outfits der US-Olympiamannschaft - sowie für innovative Entwicklungen im Bereich der Sportbekleidung verantwortlich, die maßgeblich zum Aufstieg von Nike beitrugen. Dass Diane Katz bis heute keinen Wikipedia-Eintrag hat, ist bezeichnend für die Mechanismen, durch die nicht nur Designgeschichte, sondern Geschichte im Allgemeinen zu jener Geschichte wird, die wir als solche lesen - ohne sie immer als konstruiert zu erkennen.
Das einleitende Kapitel der Ausstellung verdeutlicht auch die zentrale Rolle des japanischen Herstellers Onitsuka Tiger für die frühe Entwicklung von Nike: Phil Knights erster Angriff auf Adidas bestand darin, Onitsuka Tiger-Schuhe in die USA zu importieren und zu vertreiben. Einer der ersten bahnbrechenden Nike-Schuhe - der sogenannte „Cortez“ von 1972 - basierte auf einem Modell von Onitsuka Tiger. Man könnte sogar argumentieren, dass Carolyn Davidsons berühmter „Nike Swoosh“ nur eine gestalterisch reduzierte, umgekehrte Version der Tigerstreifen von Onitsuka ist. Wir behaupten das nicht - schließlich steht der Swoosh auch für den Flügel der Siegesgöttin Nike. Aber wenn man die beiden Logos nebeneinander in einer Vitrine von „Form Follows Motion“ sieht, ist es schwer, den gestalterischen Kurzschluss zu übersehen.
Ausgehend von den amerikanischen Leichtathletik-Arenen der 1960er und 1970er Jahre begleitet „Form Follows Motion“ die Marke Nike durch die Entwicklungen der letzten rund 50 Jahre. Den Auftakt bildet das Kapitel „Air“, das neben der gleichnamigen Nike-Sohle auch die Diversifizierung des Unternehmens über die Leichtathletik hinaus in andere Sportarten thematisiert - neue Felder, in denen „Form“ zwar weiterhin auf „Motion“ ausgerichtet ist, die Bewegung aber weniger im schnellen Geradeauslauf besteht, sondern vielmehr in der schnellen Bewegung über den Tennisplatz, im Ollie oder im Dunking - und so weiter.
Es folgt das Kapitel „Sensation“, in dem Nike-Produkte nach Kriterien wie Material oder Performance untersucht werden - mit besonderem Fokus auf die Arbeit des Nike Sport Research Lab.
Drei Kapitel, die - neben einer Vielzahl von Nike-Produkten, Prototypen, Werkzeugen, Archivmaterialien und vielem mehr - auch viele jener Sportikonen vorstellen, die heute untrennbar mit der Marke verbunden sind: Serena Williams, LeBron James oder Ronaldinho. Ergänzt wird die Ausstellung durch eine Reihe von Videos, in denen diese Stars in Nike-Schuhen zu sehen sind - Videos, die einst als Werbematerial für Nike produziert wurden. In der Ausstellung „Form Follows Motion“ stellt sich die Frage: Sind diese Filme nun Archivmaterial des Nike-Kommunikationsdesigns? Oder einfach das, was sie immer waren - Werbefilme von Nike? Wie sind sie also zu betrachten?
Diese Frage führt uns zum sogenannten „Thonet-Test“ - jenem Bewertungsrahmen, den wir im Rahmen der Ausstellung „Sitzen - Liegen - Schaukeln. Möbel von Thonet“ 2014 im Grassi Museum für Angewandte Kunst in Leipzig entwickelt haben. Ein Instrument, mit dem wir überprüfen, inwieweit eine markenbezogene monografische Ausstellung eine unabhängige Auseinandersetzung mit der Marke darstellt - oder ob es sich um einen Missbrauch des musealen Rahmens für Werbezwecke handelt. Eine Art „Museumswashing“ - wenn man so will.
Ein Test, den wir bei jeder monografischen Ausstellung über Marken anwenden.
Wie schneidet also „Form Follows Motion“ ab?
Der Einstieg verläuft holprig.
Einer der ersten Texte im Eröffnungskapitel von Form Follows Motion verkündet: „Design und Sport sind eng miteinander verwoben. Kein Unternehmen beweist dies besser als Nike …“ Wirklich? Im Ernst? „Kein Unternehmen“? Man könnte darüber diskutieren – doch wozu? Die Kurator*innen lassen keinen Raum für Widerspruch.
Während man noch überlegt, die Ausstellung gleich wieder zu verlassen und stattdessen zum Depot Deli zurückzukehren – mehr Cheesecake –, läuft nebenan ein Werbefilm aus dem Jahr 1980. Er zeigt, wie Nike-Schuhe entworfen und produziert werden, und endet mit den Worten: „A shoe, a Nike shoe is born“, begleitet von lautem Applaus und euphorischem Jubel einer unsichtbaren Menschenmenge. Der Werbeeffekt verfehlt seine Wirkung nicht – im Guten wie im weniger Guten.
Im weiteren Verlauf begegnet man immer wieder Wandtexten, die irgendwo zwischen unternehmensnaher Kommunikation und enthusiastischer Markenverehrung oszillieren. Nicht alle Texte folgen diesem Tonfall, aber viele. Eine detaillierte sprachliche Analyse würde den Rahmen sprengen, doch der Gesamteindruck bleibt: durchweg positiv, durchweg affirmativ, durchweg „Thank you Nike!“
Dazu kommen die bereits erwähnten Anzeigen. Mit jeder weiteren Station, mit jedem weiteren Exponat wird der Ausstellungstitel programmatisch – und zugleich problematisch.
Im oberen Stockwerk schließlich beginnt das vierte Kapitel: Relation.
Ein Schlusspunkt, der sich als eine Art Sneaker-Erotik inszeniert. Eine Präsentation von rund 50 Nike-Sneakern – genauer: limitierte Editionen, Kooperationen und sogenannte Special Make Ups. Darunter Modelle, die in Zusammenarbeit mit dem Einzelhändler Patta, dem Modedesigner Riccardo Tisci, der Graffiti-Künstlerin Claw Money, dem DJ Clark Kent oder Elton John entstanden sind. Jeder Schuh steht auf einem eigenen Sockel, geschützt durch eine Glasvitrine. Reine Objektinszenierung. Reine Mythenbildung.
Die sakrale Atmosphäre wird durch die Architektur des Vitra Design Museums noch verstärkt: Das Dach des Frank-Gehry-Baus erinnert an das eines religiösen Gebäudes – der Raum wirkt wie eine Sakristei. Eine bewusste Anspielung auf Sacristy von Kang Sunkoo in der Stiftung Bauhaus Dessau und die Fragen, die dieses Projekt zu Ritualen, Vokabularen und Mechanismen der Verehrung stellt. Ergänzt wird dieser Diskurs durch Ieva Baltrėnaitė-Markevičės Projekt The Secrets of the (Un)Processed Collection, zu sehen auf der 9. Tallinn Applied Art Triennial. Auch dort ging es um die Bewertung und Bedeutungszuweisung von Alltagsobjekten.
Was also macht einen Nike-Sneaker wertvoller als andere Sneaker? Was unterscheidet die im letzten Kapitel von Form Follows Motion gezeigten Modelle von jedem anderen Nike-Schuh? Was macht einen bestimmten Stuhl wertvoller als einen anderen? Was macht einen bestimmten Stahlrohrstuhl wertvoller als alle übrigen?
Und wenn die Antwort nichts anderes ist als ein Name, ein Logo, eine PR-Kampagne oder eine Signatur – sei es handschriftlich oder grafisch –, was sagt das über unsere Gegenwart aus?
Sollten wir uns dann wirklich noch über den Zustand der heutigen Gesellschaft wundern?
Könnten – oder sollten – wir vielleicht Dinge anders bewerten? Könnten – oder sollten – wir unsere Alltagsgegenstände, unsere Politiker*innen und unsere Mitmenschen mit anderen Maßstäben betrachten?
Und dann ist da noch das Video zu Nellys Song "Air Force Ones" aus dem Jahr 2002 - ein Stück, das im letzten Kapitel der Ausstellung in einer Endlosschleife läuft, jeden Winkel des Obergeschosses durchdringt und mit seiner endlosen Wiederholung von "Air Force Ones" und der Ermahnung "If the shoe is on the shelf, You should have some, man, You can't sit up and tell me that you have none" dafür sorgt, dass man den Raum mit dem dringenden Bedürfnis verlässt, sich ein Paar zu kaufen - am besten gleich zwei, wie Nelly.
Seit unserem Besuch von Form Follows Motion haben wir viel darüber nachgedacht, aber wir konnten kein Argument finden, warum dieser Track ein Beispiel für die kulturelle Bedeutung der „Air Force Ones“ ist. Denn das ist er nicht. Er ist eine platte Bestätigung der Objektivierung der Marke Nike, ihrer Vermarktung, ihrer Positionierung - ein Beispiel für die Prozesse und Rituale der Mythisierung.1 Und doch findet sich im letzten Kapitel, zwischen all der zelebrierten Objektverehrung, auch ein Exemplar von Friedrich von Borries' Buch „Wer hat Angst vor Niketown?“ aus dem Jahr 2004: „Nike-Urbanismus, Branding und die Markenstadt von Morgen“. Ein Werk, das - wir fassen hier bewusst stark zusammen - kritisch die Entwicklung eines zukünftigen Berlins skizziert, das von Konzernmarketing geprägt, gesteuert und kontrolliert wird: ein urbaner Raum, der den Ansprüchen und der vermeintlichen Großzügigkeit von Nike unterworfen ist. Die (soziale) Form folgt Nike. Ein Moment des Widerstands inmitten des Objektkults, ein Akt der Blasphemie in einem fast sakralen Raum - und zugleich eine alternative Lesart jener Welt, die Nelly feiert, konsumiert -, den die kurator:innen als Brücke zu den weniger leicht zu feiernden Facetten der Nike-(Hi)Story und ihrer heutigen Realität nutzen. Facetten, die sie im restlichen Ausstellungskontext auffallend unerwähnt lassen.2
Ein „Wer hat Angst vor Niketown?“ haben wir im Museumsshop des Vitra Design Museums jedenfalls nicht entdeckt. Vielleicht war es an diesem Tag ausverkauft. Dafür gab es zahlreiche Publikationen aus dem Bereich der Sneaker-Erotik.
Was, ja, wie ein Vorwurf klingt - aber eine Beobachtung ist. Wenn auch eine, die man vielleicht nicht hätte machen müssen.
Und ja - in diesem Zusammenhang würden wir uns auch den Vorwurf gefallen lassen, nach Weil am Rhein gefahren zu sein, ohne Form Follows Motion zu mögen. Wir geben offen zu, dass uns die Ankündigung der Ausstellung im Vitra Design Museum irritiert, ja verärgert hat - und dass uns das vielleicht sensibler für sprachliche und semantische Trigger gemacht hat, als es bei einer Ausstellung der Fall gewesen wäre, auf die wir uns gefreut hätten. Aber wir weisen entschieden zurück, dass die meisten der obigen Zeilen auf der Zugfahrt nach Weil entstanden sind. Wir sind vieles, aber nicht unfair - und wir bemühen uns stets, offen und sachlich an jedes Thema heranzugehen. Ja, wie alle Menschen tun wir das mit einem konditionierten Blick und innerhalb persönlicher Entscheidungsmuster - aber immer im Bewusstsein, dass wir diesen Blick und diese Muster haben. Und dass es einer bewussten Anstrengung bedarf, die nötige Distanz herzustellen.
Eine Distanz, die Form Follows Motion zu seinem Thema nicht immer einhält.
Aber das sind nur Momente innerhalb einer insgesamt sehr umfassenden Ausstellung. Und als solche sollte man sie auch verstehen - und betrachten.
Denn es gibt auch Momente, in denen Form Follows Motion eine überaus gelungene museale Präsentation ist.
Und es sind Momente, in denen Design erlebbar wird.
Zum Beispiel als Bill Bowerman Anfang der 1970er Jahre die so genannte „Waffelsohle“ entwickelte - „Waffelsohle“ deshalb, weil sie auf einem Waffeleisen entstand und optisch an eine Waffel erinnert. „Form Follows Breakfast“ - eine Entwicklung, die an Marcel Breuer auf seinem Fahrrad in Dessau oder an Yrjö Kukkapuro in seiner Schneewehe in Finnland denken lässt: beides Momente des spontanen Einfalls. Und eine Entwicklung, die - wie „Form Follows Motion“ eindrücklich zeigt - als Teil eines langen Forschungsprozesses Bowermans verstanden werden muss: ein Prozess auf der Suche nach Schuhen und Schuhtypen, die Athlet*innen unterstützen, nach einer Form, die Bewegung ermöglicht.
Oder die Air-Sohle - Frank Rudys Antwort auf die Frage, wie die Füße in Sportschuhen besser geschützt werden können. Eine Forschung, die Rudy ursprünglich außerhalb von Nike im Kontext von Skischuhen begonnen hatte, die Nike aber begeistert aufgriff, als Rudy an sie herantrat, und gemeinsam mit ihm weiterentwickelte. Oder Flyknit, ein 2008 eingeführtes 3D-Strickverfahren, bei dem das Obermaterial eines Schuhs aus synthetischem Garn gestrickt wird.
Drei Beispiele für Textil- und Materialdesign, die zugleich sehr anschaulich zeigen, wie neue Materialien und Produktionsverfahren den Wandel unserer Alltagsgegenstände vorantreiben - und wie wichtig das Zusammenspiel von technischen und kreativen Kräften ist, damit das Neue Bedeutung erlangt.
Und dann kommt das letzte Kapitel.
Ja, dieses letzte Kapitel - mit seinem Hype um Limited Editions, Kooperationen und Special Make Ups. Und mit einer solchen Dichte dieser Formate, mit Kooperationspartnern, die fast immer aus den gleichen Milieus kommen, dass man überdeutlich erkennt, was Nike hier macht: Man sieht, wie sich die Marke positioniert, wie Nike gelesen werden will, welche Zielgruppen als profitabel gelten. Nike flüstert den Teenagern ins Ohr, erklärt ihnen, wie Nike-Schuhe zur Selbstinszenierung genutzt werden können, nutzt das tief verwurzelte menschliche Bedürfnis, Teil einer kollektiven Identität zu sein - um der Einsamkeit des Individuums zu entkommen und einen Sinn in der eigenen Existenz zu finden. „Air Force Ones“, „Air Force Ones“, Kauf sie! Kauf sie! Kauf zwei Paar! "Air Force Ones - Du kannst sein wie ich! „Air Force Ones“.
Ein letztes Kapitel im Obergeschoss des Vitra Design Museums, das inhaltlich nichts mit den drei Kapiteln im Erdgeschoss zu tun hat. Eine Nike im Obergeschoss, die nichts mit der Nike im Erdgeschoss zu tun hat. Der physische Akt des Treppensteigens ist der Übergang von einem Nike zum anderen. Zwei Nikes, die aber in einen sehr reizvollen Dialog miteinander treten - einen Dialog, der auf besonders befriedigende Weise dazu einlädt, über das Verhältnis von Form und Funktion nachzudenken. Und über den Begriff „Design“. Über die Frage „Qu’est-ce que le design?“, die das Musée des Arts Décoratifs in Paris 1969 an Charles Eames, Verner Panton, Roger Tallon, Joe Colombo und Fritz Eichler richtete.
Denn nicht vergessen: Wir besuchen eine Design-Ausstellung in einem Design-Museum. Wir sind nicht in einem Phantasie-Schuhladen.
Während man in den ersten drei Kapiteln durchaus argumentieren kann, dass die Form zwar nicht immer direkt der Bewegung folgt, es aber eine klare Beziehung zwischen beiden gibt, spielt die Bewegung im letzten Kapitel keine Rolle mehr. Hier folgt die Form eher dem Namen, folgt dem Trend, folgt dem Marketing, folgt den sozialen Medien, folgt dem Ego, folgt dem Geld. Wenn also die ersten drei Kapitel zeigen, wie sich der Entstehungsprozess eines „Schuhs, eines Nike-Schuhs“ in den mehr als vierzig Jahren seit dem Columbia-Trainer aus dem unerträglichen Film von 1980 verändert hat, so tut dies auch das letzte Kapitel - allerdings auf ganz andere Weise. Es sind ganz andere Nike-Schuhe. Und ganz unterschiedliche Entstehungsgeschichten. Was sehr aufschlussreich ist - nicht nur in Bezug auf den Begriff „Design“, sondern auch in Bezug auf den zeitgenössischen, populären Gebrauch dieses Begriffs.
Unten steht tatsächlich Design - das, was Roger Tallon 1969 als „die Suche nach Informationen und die Methode zur Lösung eines Problems"3 bezeichnete. Oben hingegen dreht sich alles um Styling - ein Styling, das im krassen Gegensatz zum Design steht. Ein Styling, das eng mit den Schrecken des „t****“ verbunden ist, ein Styling, gegen das sich Karl Clauss Dietel über weite Strecken seiner Karriere vehement gewehrt hat - nicht nur als Ausdruck eines aufgesetzten Konsumverhaltens, sondern als zentrales Element einer geplanten Obsoleszenz, die sich unsere Gesellschaft und unsere Umwelt bei Alltagsgegenständen nicht leisten können. Ein Styling, das Joe Colombo 1969 kritisierte, weil es „den Konsumenten bezaubert, der bereits unter dem Einfluss der ‚Medien‘ und der Objektivierung des Designs gelitten hat - eine Gehirnwäsche"4. Ein Styling, das sich seit jeher als Design tarnt - und damit die Grenzen zwischen beiden immer mehr verwischt. Oder wie es Verner Panton in „Qu’est-ce que le design?“ formulierte: „Durch eine Art ‚künstlerisches‘ Mysterium ist Design leider zu einem Modewort geworden, das sich von seiner wahren Bedeutung entfernt hat. Zu viele Menschen glauben, dass ein Designer jemand ist, der Alltagsgegenständen eine dekorative Note verleiht oder vertraute Formen so verfremdet, dass sie neu und elegant erscheinen. Die Arbeit des Designers ist viel mehr als das - und von viel größerer Bedeutung für die Gesellschaft"5
Was also sind die Schuhe im letzten Kapitel von Form Follows Motion, wenn nicht Alltagsgegenstände mit dekorativem Zusatz oder verfremdeten Formen - vermarktet als Design durch teure PR-Kampagnen? Deren Verfallsdatum nicht nur sichtbar, sondern von Anfang an Teil der strategischen Planung eines Unternehmens ist?
Ja, Verner Panton mag sich geirrt haben. Genau wie Joe Colombo, Karl Claus Dietel oder Roger Tallon. Aber haben sie wirklich? Vielleicht irren wir uns. Qu’est-ce que le design?
Ob Panton nun Recht hat oder nicht, der Dialog zwischen dem letzten Kapitel und den ersten drei beleuchtet auf sehr befriedigende Weise, wie die Diversifizierung von Nike weg vom Sport zu einer Aufspaltung in eine Lifestyle-Marke geführt hat, die zwar auf ihre Herkunft als Sportmarke angewiesen ist - nicht zuletzt für ihre Legitimation und ihre Geschichte -, aber kaum noch etwas mit ihr gemein hat. Außer dem Swoosh.
Und wenn wir rein hypothetisch - im Sinne unserer Argumentation - annehmen, dass Panton Recht hat (hat er), dann zeigt der Dialog zwischen dem letzten und den ersten drei Kapiteln auch deutlich, in welcher realen Gefahr sich Design heute befindet. Und wie sich diese Gefahr, obwohl sie schon seit Jahrzehnten besteht, in unserer visuell überfrachteten und egozentrischen Zeit drastisch verschärft hat. Und er zeigt auch die Folgen eines Bedeutungsverlustes von Design für die Gesellschaft auf - die Gefahren einer Welt, die auf der Oberflächlichkeit und Unehrlichkeit von Styling und Marketing basiert, auf der Priorisierung von Inszenierung vor Inhalt, von Kommerz vor Kultur.
Und nein, wir haben diesen Text nicht im Zug nach Weil am Rhein geschrieben.
Er ist vielmehr eine Mahnung an uns alle, nicht nur mehr über „Qu’est-ce que le design?“ nachzudenken, sondern Design auch aktiv zu verteidigen - und uns nicht länger von denen täuschen zu lassen, die den Begriff missbrauchen. Nike ist Design, keine Frage - aber Nike ist auch ein Missbrauch des Begriffs Design. Ein Missbrauch von Kultur im Dienste des Kommerzes.
Was die Kurator:innen von Form Follows Motion vermutlich nicht zu verdeutlichen beabsichtigten - wir rätseln immer noch, wie die 50 gestylten Sneaker des letzten Kapitels es überhaupt in das sonst so streng kuratierte Vitra Design Museum geschafft haben. Aber wir freuen uns sehr darüber. Denn die Gegenüberstellung der beiden zeitgenössischen Nike-Welten, die durch ihre Präsenz möglich wird, ist nicht nur äußerst befriedigend, sondern auch höchst lehrreich.
Eine konzeptionell durchdachte und gestalterisch überzeugende Ausstellung, die zügig voranschreitet und ein breites Thema in gut portionierte, aber keineswegs oberflächliche Abschnitte gliedert: Form Follows Motion bietet - auch wenn man sich stellenweise durch etwas zu markenlastige oder fanatische Momente kämpfen muss - aufschlussreiche Einblicke. Nicht nur in die (Hi)Story von Nike selbst, sondern auch in die Rolle, die das Design dabei spielt. Und darauf, wie Nike seinerseits durch Design zur Entwicklung des Sports beigetragen hat. Das heißt: Form Follows Motion hat den Thonet-Test bestanden - sonst hätte es diese Zeilen nicht gegeben. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, Design öffentlich zu machen - und zu verteidigen.
Die Ausstellung nimmt die vielfältigen Formen und Funktionen der Nike-Schuhe als Ausgangspunkt, um nicht nur Nike selbst, sondern auch die Beziehung des Unternehmens zur Gesellschaft in den letzten 50 Jahren zu beleuchten. Sie beleuchtet auch die Beziehung von Nike zum Design - und bringt uns damit nicht nur Nike näher, sondern vor allem ein besseres Verständnis dafür, dass „Form Follows Function“ vielleicht nicht das ideale Prinzip für die Gestaltung jedes einzelnen Produkts ist - und schon gar kein Naturgesetz. Aber es ist ein hervorragendes Werkzeug, um die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Objekten und Gesellschaft zu analysieren: wie Objekte die Gesellschaft formen und wie die Gesellschaft wiederum Objekte beeinflusst. Beziehungen, die sich ständig verändern.
„Nike: Form Follows Motion“ ist noch bis Sonntag, 18. Mai, im Vitra Design Museum, Charles-Eames-Straße 2, 79576 Weil am Rhein, zu sehen.
Alle Informationen sind unter: www.design-museum.de zu finden.
Nach der Station in Weil am Rhein geht „Nike: Form Follows Motion“ auf Welttournee. Weitere Termine stehen noch nicht fest. Informationen finden Sie in der lokalen Presse oder unter: www.design-museum.de/worldwide
1Wir haben auch viel Zeit damit verbracht, Air Force Ones von Nelly mit dem Track My Adidas von Run D.M.C. aus dem Jahr 1986 zu vergleichen und dabei auch die Frage aufgeworfen, ob My Adidas ein Beispiel für die kulturelle Bedeutung von Adidas darstellt – und das nicht zuletzt aufgrund der Rolle von Adidas im Aufstieg von Nike. Einen Vergleich zwischen Nelly und Run D.M.C. empfehlen wir allen, um zu sehen, wohin er führt. Zudem empfehlen wir, sowohl die Bildsprache im Video von Run D.M.C. vs. Jason Nevins – It's Like That aus den Jahren 1983/1997 als auch die zeitgenössische Streetwear-Ästhetik von Nike zu betrachten und außerdem die Verbindung zwischen den Bildern und den Texten von It's Like That mit der zwischen den Bildern und den Texten von Air Force Ones zu vergleichen. Hip-Hop begann irgendwo – und aus einem bestimmten Grund. Dann verlor er sich. Dann erklärte Nas ihn für tot.
2Im Interesse der Fairness und Vollständigkeit sei erwähnt, dass es auch einen Katalog von Nike mit dem Titel Form Follows Motion gibt, dessen Inhalt uns zwar nicht bekannt ist, der jedoch möglicherweise einige der Aspekte behandelt, die in der Präsentation nicht aufgegriffen werden.
3Joe C. Colombo, Charles Eames, Fritz Eichler, Verner Panton, Roger Tallon: Qu’est-ce que le design?, Centre de Création Industrielle, Paris, 1969.
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