Die Architekturgalerie am Weissenhof zeigt „Stuttgart reißt sich ab. Ein Plädoyer für den Erhalt stadtbildprägender Gebäude“

Städte wachsen, verändern und entfalten sich – ein Prozess, der, wie die Entwicklung des Menschen auch, selten geradlinig verläuft, meist das eine oder andere Opfer fordert und die eine oder andere Narbe hinterlässt – physisch wie auch emotional. Mit der Ausstellung „Stuttgart reißt sich ab“ hat sich die Architekturgalerie am Weissenhof vorgenommen die Stadtentwicklung in Stuttgart seit der Nachkriegszeit zu untersuchen, und, wie es heißt, ein „Plädoyer für den Erhalt stadtbildprägender Gebäude“ zu halten.

Die von den ArchitektInnen Claudia Betke und Wilfried Dechau (Architekt und früherer Herausgeber des deutschen Architekturmagazins db – deutsche Bauzeitung) kuratierte Ausstellung „Stuttgart reißt sich ab“ präsentiert großformatige Fotografien von Wilfried Dechau und Wolfram Janzer, die exemplarisch Gebäude zeigen, die entweder in den letzten Jahren zerstört wurden, oder aber erhalten werden konnten – meist aufgrund öffentlicher Initiativen und Proteste. Claudia Betkes Stadtplan wiederum liefert einen klaren Überblick mit den meisten verlorenen, erhaltenen und gefährdeten Gebäuden, und hebt so wunderbar die Veränderungen, vor allem aber auch den Umfang und die Chronologie dieser Veränderungen, hervor, die sich seit dem Krieg in Stuttgart vollzogen haben.

Stuttgart reißt sich ab Architekturgalerie am Weissenhof, Stuttgart

Stuttgart reißt sich ab Architekturgalerie am Weissenhof, Stuttgart

Städte wachsen, verändern und entfalten sich – Stuttgart allerdings kann aufgrund seiner geografischen Lage nur bedingt wachsen. Die Stadt liegt in einer Mulde, mehr oder weniger von allen Seiten gesäumt von grünen Hügeln; malerisch – hinsichtlich der Stadtentwicklung, aber unpraktisch. Folglich kann Wachstum in Stuttgart eigentlich nur über Wandel realisiert werden, und wie überall sind städtebauliche Veränderungen ein kontroverses und hoch emotionalisiertes Thema. Die Debatte rund um die Konstruktion des Centre Pompidou in Paris und die damit verbundene Neugestaltung der Umgebung veranschaulicht die Problematik vielleicht besser als so manch anderes Beispiel aus der jüngeren Geschichte.

Ein Großteil des derzeitigen Wandels in Stuttgart, vollzieht sich im Kontext des Projektes Stuttgart 21 der Deutschen Bahn. Der Stuttgarter Hauptbahnhof soll unter die Erde verlegt werden; damit soll eine Neugestaltung des Standorts ermöglicht werden. Dieses Projekt ist kontroverser und emotional aufgeladener als die meisten, hat zudem sein ganz eigenes Tempo und wirft seine Schatten deshalb auf einen Großteil der Diskussionen, die sich um die aktuelle Stadtentwicklung in Stuttgart drehen. Die jüngste Ankündigung, Stuttgart 21 brauche nochmals mehr Zeit und Geld als geplant, hat die Sache erneut befeuert.

Der städtische Wandel wird laut Kuratorin Claudia Betke außerdem von der Tatsache bestimmt, dass abgerissen werden darf, „wenn ein Investor in Stuttgart belegen kann, dass es unökonomisch ist ein Gebäude zu erhalten.“ Dies geschieht ganz unabhängig vom Denkmalschutz. Ein sehr gutes Beispiel für diese Sachlage ist beispielsweise Egon Eiermanns umstrittene Entscheidung aus dem Jahr 1956, das Kaufhaus Schocken von Erich Mendelsohn abreißen zu lassen, um Platz für ein neues Kaufhaus zu schaffen. Eiermann zufolge entsprach die Bausubstanz nicht länger den modernen Standards, eine Modernisierung hielt er für unökonomisch. Eiermanns Gegner argumentierten anders, aber ohne Erfolg. Die Entscheidung für den Abriss des Mendelsohn Gebäudes ist nicht nur ein klassisches Beispiel für den brutalen städtebaulichen Wandel in Stuttgart, sondern nach wie vor eine schmerzhafte und allgemeingültige Wunde für viele Anwohner. Zu den in jüngerer Zeit zerstörten Gebäuden gehören beispielsweise das Amerika-Haus/Filmhaus, das frühere IHK Hauptquartier und das frühere Innenministerium in der Dorotheenstraße.

Die Frage, ob ein Gebäude denkmalgeschützt ist oder nicht, wird in Stuttgart grundsätzlich durch die Tatsache erschwert, dass in Stuttgart seit 2008 keine Denkmalliste veröffentlicht wurde, während in anderen großen deutschen Städten, wie beispielsweise Berlin, Köln oder Frankfurt die Denkmallisten online zu finden und frei verfügbar sind. In Stuttgart ist der Zugang durch den Datenschutz beschränkt – nur wer ein glaubhaft berechtigtes Interesse darlegen kann, erhält Informationen und das auch nur zu einem Gebäude. Ein allgemeines Interesse an der Liste als solches ist unzureichend. Für Claudia Betke war es Teil der Vorbereitungen zur Ausstellung die Informationsfreiheit zu nutzen, und dem Rathaus mit eiserner Hartnäckigkeit eine Kopie der aktuellen Liste zu entlocken. Dabei handelt es sich allerdings um eine Liste, die überholt sein wird, sobald sich etwas verändert. Wie soll es also eine offene und informierte Debatte über die Planung und Realisierung städtebaulicher Veränderungen geben, wenn Informationen darüber nicht frei zugänglich sind? Und wie soll es eine offene und informierte Debatte über die lokale Planungspolitik geben, wenn niemand weiß, aus welchen Gründen Gebäude unter Denkmalschutz gestellt werden bzw. warum ihnen der Denkmalschutz aberkannt wird? Und all das in einer Stadt wie Stuttgart, deren Wachstum vom städtebaulichen Wandel abhängt, und in der die Gemüter dank Stuttgart 21 ohnehin schon erhitzt sind.

The demolition of a block of flats in the Haussmannstrasse, Stuttgart. To allow for the construction of, a block of flats......(Photo Copyright Wilfried Dechau)

Die Zerstörung eines Wohnblocks in der Haussmannstraße, Stuttgart. Wird abgerissen, um ein neues Wohnhaus zu bauen … (Foto Copyright Wilfried Dechau)

Städte wachsen, verändern und entfalten sich, aber das muss nicht zwangsläufig mit Abriss verbunden sein. Und so präsentiert „Stuttgart reißt sich ab“ auch Beispiele von Gebäuden, die – obwohl einmal für den Abriss vorgesehen, oder zumindest vom Abriss bedroht – gerettet werden konnten, denen man neues Leben eingehaucht, und einen neuen Platz in der Gesellschaft gegeben hat. Zu dieser Liste gehören so verschiedene Gebäude wie beispielsweise das Jugendstilgebäude Markthalle Stuttgart von Martin Elsaesser, das sogenannte LOBA-Haus von Rolf Gutbrod und Paul Stohrer und – wer hätte das gedacht – die Weissenhofsiedlung. Dabei handelt es sich wohl um das wichtigste Zeugnis funktionalistischer Architektur aus den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen, und auch um ein Erbe, das für Stuttgarts und Baden-Württembergs Engagement bei der Entwicklung zeitgenössischer Ideen in Architektur und Design steht – nicht nur weil die Siedlung Teil der in Stuttgart stattfinden Ausstellung „die Wohnung“ war, sondern auch weil die Mehrheit der Lieferanten und Bauunternehmer aus der Umgebung stammte. Allerdings handelt es sich dabei auch um ein Erbe, dessen Zukunft nicht zu hundert Prozent gewiss ist, wobei hier angemerkt werden muss, dass das Anwesen dem Bund gehört, also nicht direkt unter der Kontrolle Stuttgarts steht. Da die Häuser der Weissenhofsiedlung im europäischen Vergleich nicht die geräumigsten und zudem schlecht isoliert sind, könnte man argumentieren, dass ein Abriss und der Bau neuer, geräumigerer und besser isolierter Häuser fortschrittlich seien. Aber die Häuser der Weissenhofsiedlung existieren. Sie sind wichtige historische Monumente, haben auch im zeitgenössischen Kontext eine wichtiges Funktion, und sind Teil einer zusammenhängenden lokalen Gemeinde. Abriss und Neubau haben zudem nicht nur kulturelle und soziale Konsequenzen, sondern wirken sich auch auf die Umwelt aus. Wir haben es schon in einem früheren Post bemerkt: „So glauben wir nicht, dass jedes Gebäude bewahrt werden muss, nur weil es dieser oder jener Architekt entworfen hat. Wo ein Gebäude nicht mehr benötigt wird oder nicht mehr seine Funktion erfüllen kann, muss es Platz machen für eine Konstruktion, die dazu fähig ist. Das soll natürlich nicht heißen, alte Gebäude sollten automatisch abgerissen werden. Die Frage, ob Veränderungen möglich sind, um das Gebäude an seine neue Funktion oder die neuen technischen Standards anzupassen, muss sicherlich an erster Stelle stehen.“ Die jüngste Präsentation solcher Aufarbeitungsprojekte, kuratiert vom Pariser Studio Druot, Lacaton Vassal in der Architekturgalerie machte es wunderbar deutlich: in manchen Fällen ist eine Renovierung die ökonomisch und sozial sensiblere, und auch umweltfreundlichere Lösung.

LOBA Haus Stuttgart by Rolf Gutbrod and Paul Stohrer one of those once threatened buildings whose future is now secure. (Photo Copyright Wilfried Dechau)

LOBA Haus Stuttgart von Rolf Gutbrod und Paul Stohrer: eines der ehemals bedrohten Gebäude, dessen Zukunft nun aber sicher ist. (Foto Copyright Wilfried Dechau)

Städte wachsen, verändern und entfalten sich und im Verlauf dieser Prozesse verändern sich auch die urbanen Strukturen – nicht nur die physischen, sondern auch die spirituellen, sozialen und kulturellen Strukturen. Graduelle, organische Veränderungen sind Teil dieser Prozesse und werden dementsprechend, problemlos absorbiert; ganz im Gegensatz zu abrupten, erzwungenen Veränderungen. Wo Wohnungsbau, kulturelle Institutionen oder etablierte Geschäfte dem Kommerz, den Büros und Luxus-Apartments weichen müssen, da verändern sich Beziehungen, Wirklichkeiten und soziale Strukturen. Das trifft allerdings auch zu, wenn etablierte, zentrale Stadtgebiete kulturellen Institutionen überlassen werden, wie im Falle des oben genannten Centre Pompidous.

Ökologen haben mit der Zeit herausgefunden, dass komplizierte Netzwerke die Funktionsweise von Ökosystemen unterstützen; ebenso hängt Gedeih und Verderb urbaner Räume von der Art und Stabilität der dazugehörigen Netzwerke ab. Es sollte also folglich immer versucht werden durch urbanen Wandel keine Gruppe einer anderen vorzuziehen. Alle sollten von diesen Veränderungen profitieren – urbaner Wandel sollte immer die Balance einer Gemeinde stärken und unterstützen und so für die Stabilität der Netzwerke sorgen.

Als ganz bewusst politisch positionierte Ausstellung, macht „Stuttgart reißt sich ab“ deutlich, dass all das in Stuttgart nicht der Fall ist, sondern dass in Stuttgart stattdessen die Interessen der Finanzwelt und des Kommerz‘ vor allem anderen Priorität haben. Diese Entwicklung sorgt nicht nur dafür, dass Gebäude zerstört werden, ohne dass vorher ihre Relevanz und Funktion für die Stadt genau abwogen wird, sondern auch dafür, dass bezahlbarer Wohnraum und Räume für Kultur und die kreative Szene verschwinden – und das mit stillschweigender Unterstützung der Behörden.

Natürlich muss man nicht mit dieser Position übereinstimmen – die Ausstellung präsentiert die Argumente der Kuratoren und lädt zur Diskussion ein. Ein wichtiger Teil der Ausstellung sind in diesem Zusammenhang die Eröffnungsvorträge des Architekturhistorikers Frank R. Werner und die anschließende Diskussion mit – unter anderem – Herbert Medel, dem Leiter der Denkmalschutzbehörde der Landeshauptstadt.

Stadtplanung betrifft uns alle und sollte uns deshalb auch alle interessieren, und doch machen wir es uns oft zu einfach und überlassen das Thema anderen. „Stuttgart reißt sich ab“ macht wunderbar deutlich, warum jeder Einzelne ein aktives Interesse an den Entwicklungen seiner Gemeinde, der Art und Weise wie diese wächst, sich verändert und entfaltet, haben sollte.

„Stuttgart reißt sich ab. Plädoyer für den Erhalt stadtbildprägender Gebäude“ ist zwischen dem 15. Juni und 18. September in der Architekturgalerie am Weissenhof, Am Weissenhof 30, 70191 Stuttgart zu sehen.

Die Eröffnungsvorträge und die Podiumsdiskussion finden am 15.06 um 19 Uhr im Vortragssaal Neu-Bau 2 der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Am Weißenhof 1, 70191 Stuttgart statt.

Alle Details, auch die Informationen zum Rahmenprogramm sind unter http://weissenhofgalerie.de/ zu finden.

Tagged with: , , , ,