smow Blog Designkalender: 31. Januar 1977 – Eröffnung Le Centre Pompidou, Paris

1969 ließ der damalige französische Präsident Georges Pompidou verlauten, dass er sich in Paris ein großes Museum wünsche, das sich allen möglichen Arten der Kunst widmen, Kreativität fördern und architektonisch selbst ein zeitgenössisches Kunstwerk darstellen würde. Am 31. Januar 1977 – drei Jahre nach George Pompidous frühem Tod – wurde sein Traum mit der Eröffnung des Centre national d’art et de culture Georges-Pompidou, Le Centre Pompidou, Paris Realität.

Le Centre Pompidou, Paris (Photo Maureen, via commons.wikimedia.org)

Le Centre Pompidou, Paris (Foto Maureen, via commons.wikimedia.org)

Das Projekt sorgte von Anfang an für Kontroversen, sei es wegen des Standorts, der Kosten oder einfach nur der Idee an sich, ein so facettenreiches Projekt wie das „Centre Beaubourg“ anzugehen. Diese Probleme wurden noch verstärkt, als das Ergebnis des internationalen Architekturwettbewerbs verkündet und das Siegerprojekt von Renzo Piano und Richard Rogers, welches in Kooperation mit dem Ingenieursbüro Ove Arup + Partners realisiert werden sollte, enthüllt wurde – in all seiner transparenten, brutalistischen, umgestülpten, schrillen, voluminösen, abstrakten Pracht.

Es gibt wenige Bauwerke, die so stark polarisiert haben wie das Centre Pompidou – und noch weniger, bei denen das auch 40 Jahre nach ihrer Fertigstellung der Fall ist. Um nun das Jubiläum seiner Eröffnung zu feiern, hier ein paar Überlegungen aus dem Jahre 1977…

Joyeux Anniversaire Le Centre Pompidou!!!

Sich in seiner gesamten physischen Präsenz wiederzufinden kann sehr einschüchternd sein, ist es doch ein bedrohliches Gebäude, das dasteht wie ein bis auf die Knochen bewaffneter Soldat in einem Raum voller Zivilisten. Die glitzernde, runde Form der Außentreppen erinnern in der Tat an Beinschienen. Letztlich liegt die Bedrohung, die von dem Gebäude ausgeht, jedoch weniger in dieser eher zufälligen Referenz, als in dem Gesellschaftskonzept, von dem diese Zelebrierung von Hightech ausgeht. Ein einziges Centre Pompidou (genau wie ein einziger Faber Dumas in Ipswich) ist sicher spannend; aber stellen Sie sich vor, wie unsere Stadtzentren aussehen würden, wenn sie primär von Gebäuden dieser Art geprägt wären – das wäre wohl ein ganz widerliches Dilemma.

Leader Comment, The Architectural Review, Mai 1977

… Pompidou kann in Paris als nichts anderes als ein Monument bezeichnet werden; in der Wettbewerbsausschreibung mag nichts über Monumente gestanden haben, aber die versteckte Hand präsidentieller Macht, die hinter der Ausschreibung steckte, verlangte nach einem Monument. Wie aber gerade Piano+Rogers, die sonst denkbar skeptisch gegenüber der Idee der Monumentalität sind, ein so eindeutiges Monument entwerfen konnten, ist eines der vielen Rätsel, die diese rätselhafte „Einrichtung“ (denn Gebäude ist wohl nicht das richtige Wort dafür) in der Rue du Renard prägen.

Enigma of the Rue du Renard. Criticism by Reyner Banham, The Architectural Review, Mai 1977

Denn der Funktionalismus dieser provokativen, brutalistischen, fauvistisch eingefärbten Architektur hin und her: die Symbolik der verglasten, das Innen nach außen stülpenden Fassaden, Aufzüge, Rolltreppen, will sich nicht, kann sich nicht verleugnen. Hier wird, nicht weit von der Stelle, wo bis vor kurzem noch die Markthallen, Zolas berühmter „Bauch von Paris“, den Flaneur so erschreckend verzauberten, mit allen Mitteln heutigen Ingenieurwesens dem zerebralen Verzehr ein Monument errichtet.

Werner Spies, Der Pariser Kulturpalast – eine Spekulation auf die Zukunft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Januar 1977

Wo immer man auch hinsieht, man ist überwältigt von riesigen rechteckigen Flächen, über denen sich Rohre, Träger und Beleuchtungsröhren kreuzen. Diese reizen aufs Äußerste – auf omnipräsente, aggressive und unerbittliche Art und Weise. HEUTZUTAGE WÜRDE ES NIEMAND, IRGENDWO IN FRANKREICH, WAGEN SOLCH EINE FABRIK ZU ENTWERFEN.

Rene Barjavel, Le Journal du Dimanche, January 30th 1977 quoted in The Architectural Review, Mai 1977

Es erinnert an eine Art Supertanker, der unpassenderweise im Herzen von Paris vor Anker liegt.

Charles Hargrove, Pompidou’s Cultural Colossus, The Times, 1. Februar 1977

Dem unvoreingenommenen Auge mag das Äußere des Centre Pompidou wie eine wahr gewordene Version von Ferdinand Légers Traum vorkommen, nach dem sich Großstädte eines Tages an industriellen Formen erfreuen würden, anstatt ständig danach zu streben, sie zu verstecken – und beginnen würden, sie mittels intensiver Farben bewusst zu betonen. Weit entfernt davon, die altehrwürdigen Straßen, die von ihm aus in alle Richtungen gehen, in den Schatten zu stellen oder gar zu verspotten, lässt Beaubourg uns wieder einmal all ihre fast verbotenen Reize erkennen. Die Rue des Archives entlangzulaufen und dann plötzlich auf all dieses Rot, Blau und Grün zu stoßen, gehört zu den ganz großen europäischen Erfahrungen.
John Russell, Art View: The New Museum Parisians Love to Hate, New York Times, 7. August 1977

„Hässlich, fürchterlich und widerwärtig“ waren die Worte, die Solange d’Herbez de la Tour, Präsidentin der französischen Gewerkschaft weiblicher Architektinnen, nutzte, um Paris‘ neustes und spektakulärstes Kunstmuseum zu beschreiben.
Paris‘ New Meccano Machine, Time, Vol 109, Ausgabe 6, 2. Juli 1977

Mit den Menschen, die sich darin bewegen, ist es eine beeindruckende kinetische Skulptur der Extraklasse.
Nathan Silver, Le Tour Babel, Harper’s, 1. April 1977

Halb Wunschkind eines kultivierten Präsidenten, halb Bankert der Notzucht im wunderschönen Monat Mai 1968: „Beaubourg“ sollte zunächst mit dem Trauma der späten sechziger Jahre fertigwerden. .. Mit einem beispiellosen offiziellen Aufwand versuchte man das zu verwirklichen, was 1968 in aller Munde kam, nämlich das Inoffizielle, Spontane, einen freien, fließenden Austausch von Ideen und Gefühlen, die keine ästhetische, moralische oder politische Zensur zu reglementieren hatte. Ohne Zauberworte wie Partizipation, ohne die Magie einer kollektiven Fähigkeit zum Schöpferischen hätte man wohl kaum ein derart komplexes Programm aufzustellen gewagt. … So verstanden steht der Bau des Architektenteams Renzo Piano und Richard Rogers für einen bestimmten, bereits historisch gewordenen Moment, für eine Ethik, der man in den sechziger
Jahren die interessantesten und, möchte man hinzufügen, nachträglich gesehen verzweifeltsten Utopien verdankt.
Werner Spies, Der Pariser Kulturpalast – eine Spekulation auf die Zukunft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Januar 1977

Bei seiner Geburt scheint das Centre in eine bereits überholte Zukunft einzutreten. Seine Ästhetik, Ökonomie und Umwelt sind ein abschließendes Statement zu einer Ära des Glaubens an unbegrenztes Wachstum, technologisches Wohlwollen und sozialen Konsens.
Jim Hoagland, Paris‘ Machine-Age Temple for the Arts, The Washington Post, 1. Februar 1977

Und doch hat quasi niemand in Paris etwas gutes über Beaubourg zu sagen… Es könnte aber auch nicht anders sein. Was bei solchen Gelegenheiten diskutiert wird ist weder ein Gebäude, noch ein Museum oder eine Ausstellungspolitik. Es ist vielmehr eine Lebenseinstellung, und zwar eine, die entgegengesetzt allem, wofür Herr Durchschnittspariser steht, denkt. Dieser ist von Natur aus in sich gekehrt, misstrauisch, xenophob, eigentumsorientiert und veränderungsresistent. Beaubourg wiederum ist im Gegensatz dazu (oder sollte es zumindest sein) das Modell schlechthin einer offenen Gesellschaft. Es wurde von Ausländern entworfen und gebaut (tatsächlich waren Menschen 14 verschiedener Nationalitäten an seinem Bau beteiligt). Die Wände waren transparent, die Türen – sofern überhaupt vorhanden – weit geöffnet und das Wort „nein“ so selten benutzt wie eines Henkers Axt [sic]. Vieles von dem, was es im Angebot hat, gibt es umsonst. All das war un-parisisch und eckte an.

John Russell, Art View: The New Museum Parisians Love to Hate, New York Times, 7. August 1977

Lehnen Sie diese kulturelle Verwirrung ab und verlangen Sie von den Autoritäten unseres Landes, dass diese erkennen, dass die lebendige Kultur des Frankreichs von heute und morgen von den Franzosen und nicht für die Franzosen sein wird.
Hugues de Varine, Confusion culturelle, Le Monde, 21. Januar 1977

Diejenigen, die das Pech haben, auf dem Beaubourg Plateau zu leben, haben tagtäglich völlig machtlos diesen brutalen Missbrauch ihrer Existenz mit ansehen müssen: als wären sie völlig unwichtig. Welcher Balzac der Zukunft wird von ihrer Vernichtung schreiben? Ganze Familien, alte Männer, Handwerker und Läden wurden entwurzelt, ohne auch nur im geringsten an die Dramen zu denken, die das mit sich brachte. Eine Schule wurde abgerissen und eine Kreuzung weiter wiederaufgebaut. Während Milliarden für diesen Vandalismus verschleudert wurden, haben Händler ihre Existenzen kollabieren sehen müssen.

Jean Paris Abolir le monstre, Le Monde, 2. Januar 1977

Eine volksfeindliche Zumutung jedoch erblicken viele Pariser vor allem in dem Entschluß, das „Centre Pompidou“ als auffällig modernen Großbau in das Altstadtviertel Beaubourg (danach auch: „Centre Beaubourg“) zu stellen … Niemand kann sagen, diese – laut gängigstem Spitznamen – „Raffinerie“ sei in Beaubourg harmonisch eingepaßt.

Die Raffinerie der Künste, Der Spiegel 7.Februar 1977

Im Falle des Beaubourg hat dieses Prinzip der Flexibilität zu einer übertrieben schematischen Lösung geführt, die die Größe des Gebäudes nicht bedenkt. Es scheint auf einem viel niedrigeren Level ausgedacht worden zu sein – mit dem Ergebnis, dass sowohl seine Räume als auch seine Elemente einer Größenordnung angehören, die weit von dem entfernt ist, was ursprünglich angedacht war.

Alan Colquhoun, Critique, Architectural Design, Vol 47 No. 2 1977

Und so ist der Standort das, was falsch ist und das Centre Pompidou so störend erscheinen lässt; es ist schlicht unmöglich, den bunten Expressionismus so einer Megastruktur mit einem Viertel zu vereinbaren, das zwei- bis dreihundert Jahre alt ist. […] Der Standort ist etwas, über das man sich ausführlich Gedanken machen sollte, wenn ein Architekt die Chance bekommen soll, das Umfeld zu respektieren und somit positiv dazu beizutragen. Bedauerlicherweise jedoch steht dieses Gebäude im Herzen von Paris. Und ist dafür viel zu groß.
Stephen Gardiner, The Culture Factory. Inside out, Observer, 6. Februar 1977

… die obsessive Vertikalität der rund 90 Steigrohre und Strukturelemente dieser Fassade erhöhen optisch die offenkundige Höhe des Gebäudes nicht. Sie scheint vielmehr die eng verteilten Vertikalen der konventionellen Pariser Bauten auf der anderen Straßenseite nachhallen zu lassen und so die beiden Straßenseiten in eine engere Einheit zu bringen.
Enigma of the Rue du Renard. Criticism by Reyner Banham, The Architectural Review, Mai 1977

Wessen Kultur soll das sein? Ist das wirklich die Kultur von Millionen gewöhnlichen Bürgern Frankreichs, jung wie alt, die nie danach gestrebt haben, in ein Museum zu gehen, und sei dieses eine noch so moderne technische Spielerei, weil sie gar nicht genug Freizeit haben, und weil sie auch einfach ganz andere Probleme haben… Der größte Teil der Franzosen wurde seines grundlegendsten Rechts beraubt – dem Recht auf Rücksicht, welches M. Giscard d’Estaing im Mai 1968 für sie eingefordert hat.
Hugues de Varine, Confusion culturelle, Le Monde, 21. Januar 1977

Für unsere Augen, verwöhnt von all den Engeln von Reims und Versailles, von Mansart, Gabriel und Ludwig XV, ist das Centre Georges Pompidou erstmal vor allem ein Schock. Warum? Weil es das erste Monument der kulturellen Revolution ist, die wir gerade erleben.
Jean d’Ormesson, Un salut à l’avenir, Le Figaro, 31. Januar 1977

… es ist extrem schwer, sich irgendeine Art Ausstellung vorzustellen, die in der Lage ist es mit dieser umwerfenden Demonstration architektonischer Feuerwerke aufzunehmen.
Stephen Gardiner, The Culture Factory. Inside out, Observer, 6. Februar 1977

Auf die Dauer ist indessen die Konkurrenz, die das Panorama von Paris den Bildern macht, genauso konzentrationsfeindlich wie die labyrinthische Flucht der Wände, vor allem aber das an Heizungskeller gemahnende Röhrensystem unter die Decke. Von Glücksfällen wie einer „Meta“ des Maschinenbauers Tinguely, die zwischen dem Gestänge einer Dachterrasse höchst passend rattert, abgesehen, gibt es überall schwere Handicaps für die Kunst-Betrachtung. In diesem gravierenden Punkt ist das „Centre Pompidou“ mißglückt.

Die Raffinerie der Künste, Der Spiegel 7.Februar 1977

Der Ärger beginnt eigentlich erst, wenn wir das Innere betreten. […] So atemberaubend es auch sein mag, mit einem vollkommen offenen Raum von der Größe zweier Fußballfelder zu beginnen, so schwierig sind auch die Probleme – sozialer, psychologischer und organisatorischer Art, die noch gelöst werden müssen. In diesem Zusammenhang ist Beaubourg Gefangener seines eigenen Erfolgs. […] Beaubourg ist zum jetzigen Zeitpunkt garantiert nicht der beste Ort in Paris, um sich mit einem großen Kunstwerk zu arrangieren.
John Russell, Art View: The New Museum Parisians Love to Hate, New York Times, 7. August 1977

Mr. Goldman stand im Gegensatz zu den meisten Besuchern, die laut einem Wärter nur kommen, um das Gebäude zu begaffen. Wenn sie es bis nach ganz oben geschafft und den wohl atemberaubendsten Blick von ganz Paris mitgenommen haben, gehen sie meistens gleich wieder – der Großteil der Ausstellungsfläche war nicht überfüllt. „Die Franzosen kommen doch nur, um sich über die Architektur aufzuregen“, sagte der Wärter.
Susan Heller Anderson, Visitors Flood Pompidou Center: Tourists Gawk as Parisians Sneer, New York Times, 30. Juli 1977

Wir müssen uns nun der Frage zuwenden, warum dieses „centre de culture“ gleichzeitig wie eine Konstruktion, die niemals fertiggestellt werden wird, wie eine von Stahldraht aufrecht gehaltene Packung Makkaroni und einer dieser Windsäcke, die man an der Foire de Paris sehen kann, aussieht.
Rene Barjavel, Le Journal du Dimanche, January 30th 1977 quoted in The Architectural Review, Mai 1977

Dieses wunderschöne Viertel aus dem 18. Jahrhundert ist durchzogen von beeindruckenden Höfen, Torbögen und prachtvollen alten Häusern, die jetzt vom Centre und seinem Enthusiasmus und idealistischen Absichten des 20. Jahrhunderts gesprengt wurden.
Stephen Gardiner, The Culture Factory. Inside out, Observer, 6. Februar 1977

Es gab mal eine Zeit, in der es den Pariser Lounges zu viel wurde und sie die Bastille gestürmt und auseinander genommen haben. Wer wird heute die Initiative ergreifen, die Auslöschung dieses Monsters und stattdessen seine Umwandlung in einen Garten verlangen?
Jean Paris Abolir le monstre, Le Monde, 21. Januar 1977

In drei oder vier Jahren wird dieses Zentrum zu den normalsten Dingen in Paris gehören und neben dem Eiffelturm einfach ein Ort sein, von dem aus man das Spektakel der Stadt betrachten kann.
Renzo Piano + Richard Rogers, Piano + Rogers Nuovo oggetto a Parigi Domus 566, Januar 1977

Non, ce n’est pas laid. C’est different. Tant mieux – Nein, es ist nicht hässlich. Es ist anders. Umso besser.
André Frossard a.k.a „Cavalier seul“ Le Figaro, 2. Februar 1977

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