„Luigi Colani und der Jugendstil“ im Bröhan-Museum Berlin

1977 forderte der deutsche Designer Luigi Colani eine „Renaissance des Jugendstils „1. Was er damit meinte und ob wir diese Renaissance fürchten müssen, beantwortet die Ausstellung „Luigi Colani und der Jugendstil“ im Bröhan-Museum Berlin.

Luigi Colani and Art Nouveau at the Bröhan-Museum, Berlin

„Luigi Colani und der Jugendstil“ im Bröhan-Museum Berlin

Geboren am 2. August 19282 in Berlin, studierte Lutz Colani3 zwischen 1946 und 1948 Bildhauerei an der Hochschule für bildende Künste in Berlin und später Aerodynamik an der Sorbonne in Paris. In Paris wandte er sich erstmalig dem Jugendstil zu.

Auch die Ausstellung beginnt in Paris, und zwar mit Möbeln und Keramikentwürfen des französischen Architekten und Designers Hector Guimard sowie dessen Metallarbeiten und Schilderdesigns für die Pariser Metro. Diese Arbeiten stehen stellvertretend für die verzierte, florale Ornamentik des französischen Jugendstils. Ein Ausdruck, ein Dialekt des Jugendstils, der bei „Luigi Colani und der Jugendstil“ widerhallt. Dafür sorgen unter anderem Werke wie die des katalanischen Möbeldesigners Joan Busquets i Jané oder Glaswaren aus den Fabriken von Loetz Witwe in Böhmen. Dieser besondere Aspekt des Jugendstils sollte, so die KuratorInnen, als zentrale Referenz für Luigi Colanis Verständnis und Herangehensweise an das Design dienen.

Ein Argument, das in den angrenzenden Räumen aufgegriffen und diskutiert wird, vor allem im Zusammenhang mit Assoziationen mit der Natur und mit Sinnlichkeit. Hinsichtlich der Assoziationen mit der Natur geht es hier um ein Verständnis und eine Position, die den Menschen als Teil der Natur begreift, woraus folgt, dass die Gegenstände des täglichen Gebrauchs so gestaltet sein sollen, dass sie die fließenden Kurven und abgerundeten Formen der Natur widerspiegeln. Vor allem aber sollten nach diesem Verständnis Gegenstände so gestaltet sein, dass sie die menschliche Form ergänzen und menschliche Bedürfnisse reflektieren.

Die Sinnlichkeit ist hier wiederum als erotische und emotionale Eigenschaft oder Energie zu verstehen und drückt sich vor allem durch die weibliche Form, oder besser gesagt, durch stark idealisierte weibliche Formen aus. Diese Sinnlichkeit spiegelt sich nicht nur in den mäandernden Konturen und sanften Wellenbewegungen wider, wie sie in den Werken sowohl des französischen Jugendstils als auch Luigi Colanis zu finden sind. Sie sorgte darüber hinaus mit ihrer Anerkennung des frei zum Ausdruck gebrachten nackten, schamlosen menschlichen Körpers sowohl im Europa des frühen 20. Jahrhunderts als auch im Westdeutschland der Nachkriegszeit für eine gewisse Empörung.

Luigi Colani and Art Nouveau at the Bröhan-Museum, Berlin

„Luigi Colani und der Jugendstil“ im Bröhan-Museum Berlin

Diese Diskussion wird bei „Luigi Colani und der Jugendstil“ durch eine Präsentation von Werken des Jugendstils und Luigi Colanis im Dialog mit Werken des frühen 20. Jahrhundert veranschaulicht. Dazu gehören unter anderem ein Sessel von Richard Riemerschmid aus dem Jahr 1902 für die Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst Hellerau, Colanis stapelbarer Kinderstuhl Ringnor von 1973, ein Bruno Paul Sessel von ca. 1902 für die Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk München, Colanis Polycor-Stuhl von 1968 für COR oder eine Polsterliege von Paul Iribe von 1913, die gegenüber einer Polsterliege von Luigi Colani von 1970 präsentiert wird, die in Zusammenarbeit mit dem deutschen Chemiekonzern BASF realisiert wurde. 1970 war auch das Jahr, in dem Verner Panton in Zusammenarbeit mit dem deutschen Chemiekonzern Bayer seine berühmte Installation „Visiona 2“ präsentierte. Es liegt also nahe, an dieser Stelle über die formalen, konzeptuellen und kontextuellen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Luigi Colani und Verner Panton sowie über Panton und den Jugendstil nachzudenken. Diese Gedanken werden durch das Volumen an geschwungenem Kunststoff in der Ausstellung angeregt und beschäftigen einen derart, dass man sich plötzlich in Margaret Lihotzkys Frankfurter Küche von 1927 wiederfindet.

Auf anfängliche Verwunderung folgt fast augenblicklich ein Schmunzeln: Der Gedanke, dass Luigi Colani zum Neuen Frankfurt, diesem Symbol des deutschen Funktionalismus beigetragen haben könnte, bringt einen zum Lachen. Nicht, dass es das Anliegen der Ausstellung wäre, die BesucherInnen zum Lachen zu bringen. Der primäre Grund für die Aufnahme der Küche findet sich vielmehr in einem Foto einer leider nicht real existierenden Küche, die Colani 1970 in Zusammenarbeit mit Poggenpohl präsentierte. Dabei handelt es sich um eine einteilig geformte Kunststoffgondel, in der alles, was man in der Küche brauchen könnte, in Reichweite ist. Dieser Entwurf verdeutlicht Colanis Verständnis einer Küche mit Bezug auf die menschliche Form und  die menschlichen Bedürfnisse und wird hier Lihotzkys Verständnis einer Küche, die sich am menschlichen Maßstab orientiert, gegenübergestellt. Die geradlinige und formal reduzierte Frankfurter Küche wurde nämlich entsprechend der funktionalistischen Standardisierungsideale des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt. Das heißt, sie wurde auf der Basis tayloristischer Optimierungsprinzipien und damit, wie Colanis Küche, im Kontext der NutzerInnen gestaltet.

Dasselbe also, nur eben anders.

Uns erinnert dies darüber hinaus an die einteilige Küche aus Gussbeton, die Lihotzky vor der Frankfurter Küche im Kontext der Wiener Siedlerbewegung entwickelt hat, und daran, dass eine einteilige Küche aus Gussbeton aus den frühen 1920er Jahren gewissermaßen genau das Gleiche ist wie eine einteilige Kunststoffküche aus den frühen 1970er Jahren. In beiden Fällen handelt es sich um neue Materialien und Technologien, die neue Möglichkeiten eröffnen. Statt sich weiter zu wundern, verstehen die AusstellungsbesucherInnen also etwas über Luigi Colanis Werk im Kontext der Designgeschichte des 20. Jahrhunderts und können die Frankfurter Küche glücklich verlassen.

Luigi Colani and Art Nouveau at the Bröhan-Museum, Berlin

„Luigi Colani und der Jugendstil“ im Bröhan-Museum Berlin

Die Verwunderung beginnt von neuem, wenn man vor der Sammlung von Holzmöbeln des frühen 20. Jahrhunderts von Peter Behrens, Josef Hoffmann und anderen deutschen und österreichischen AnhängerInnen des Jugendstils landet. Hier ist kein Luigi Colani zu entdecken.

Noch immer verwirrt landet man im nächsten Raum und wird mit Luigi Colanis Meinung über das Bauhaus konfrontiert: „Das Bauhaus ist out. Outer geht’s gar nicht mehr“. So steht es  geschrieben über einer Präsentation von überwiegend quadratischen Metallmöbeln, erfreulicherweise keine Bauhaus-Möbel. Vielmehr handelt es sich um einige interessante Stahlrohrobjekte aus den 1930er Jahren, die von der Prager Firma SAB hergestellt wurden. Dazu gehören unter anderem eine Draht-Glas-Kommode von Gerrit T. Rietveld für Merz & Co Amsterdam, eine Stehleuchte aus Stahl von Miloslav Prokop für Napako, Prag, und ein Holzstuhl des Ex-Bauhäuslers Erich Dieckmann aus dem Jahr 1928.

An dieser Stelle führt die Ausstellung die BesucherInnen zurück zu den Holzmöbeln des frühen 20. Jahrhunderts von Behrens, Hoffmann und Co. und geht von dort aus zur Moderne über. Diesmal mit etwas längerem Halt bei den französischen Art-déco-Arbeiten von Pierre Chareau oder Jacques-Émile Ruhlmann. Hier nähert sich die Ausstellung der Erkenntnis, dass ein großer Teil des deutschen und österreichischen Jugendstils zwar mit einem ebenso fließenden und dekorativen Symbolismus wie er dem französischen Jugendstil eigen ist begann, allerdings im Gegensatz dazu schnell zunehmend rationaler, geometrischer und symmetrischer wurde. Diese geometrische Rationalisierung und Vereinfachung floss ins Art déco und in die Zwischenkriegsmoderne ein. Und das lässt sich wohl am deutlichsten an der Fixierung des Bauhaus‘ Weimar auf Kreise, Quadrate und Dreiecke ablesen.

Das bringt uns zurück zum hochgradig verschnörkelten, floralen Ausdruck des Jugendstils und  zum „Jugendstil“ a la Luigi Colani.

"Das Bauhaus ist out", discuss..... as seen at Luigi Colani and Art Nouveau, Bröhan-Museum, Berlin

„Das Bauhaus ist out“, gesehen bei „Luigi Colani und der Jugendstil“, Bröhan-Museum Berlin

 

Dass Luigi Colani der Meinung war, „Das Bauhaus ist out. Outer geht’s gar nicht mehr“, sollte nicht als Kritik am Bauhaus verstanden werden. In vielerlei Hinsicht war Colani sehr auf der Seite des Bauhaus‘, mit Sicherheit auf der Seite des Weimarer Bauhaus‘. Seine Kritik, sein Problem lag vielmehr darin begründet, wie das Bauhaus-Erbe, bzw. das Erbe der funktionalistischen Avantgarde nach dem Krieg übernommen und interpretiert wurde, und das vor allem im Kontext des westdeutschen Designs. Man könnte sagen, dass Luigi Colani das westdeutsche Design der Nachkriegszeit als eine faule, unaufrichtige und vor allem förmliche Fortsetzung der Gestaltungsauffassung der Bauhaus-Ära verstand und darin keine notwendige Entwicklung, geschweige denn eine notwendige Korrektur erkennen konnte.

Dem westdeutschen Nachkriegsdesign mit seinem Fokus auf dem Funktionalismus der Zwischenkriegszeit unterstellte Luigi Colani eine „ultrakonservative Haltung“, die es bis heute nicht wagen würde, das Bauhaus infrage zu stellen. In dieser ultrakonservativen Haltung lag für Colani „das Grundübel.“4

Dieses „Grundübel“ war laut Colani in einem Bereich besonders verbreitet: „Gucken Sie sich doch an, was unsere großen Möbelhersteller machen. Was für ein Schrott […]? Diese kantigen Kisten da, dieser ultrakonservative Grundgedanke, der immer […] wiederholt […] und für zehntausende verkauft wird […]. Die Branche ist doof. Die Möbelbranche ist saudumm“5.

„Kantige Kisten“, die aus einem „ultrakonservative[n] Grundgedanken“ hervorgehen. Dazu kommt Colanis generelle Ablehnung des Quadratischen, Linienförmigen und Geometrischen im Produkt- und Möbeldesign, die sehr an die (angebliche) Aussage eines anderen nicht apologetischen Nachkriegsdesigners erinnert. So meinte Ettore Sottsass: „Als ich jung war, hörten wir immer nur von Funktionalismus, Funktionalismus, Funktionalismus. Das ist nicht genug. Design sollte auch sinnlich und aufregend sein“6. Dieses Verständnis, dass Objekte über das Physische hinaus funktional sein können, dass sie auch in emotionaler Hinsicht funktional sind, ist auch im Kern von Colanis Verständnis zu finden. So heißt es bei Colani: „Wir wollen den Menschen wieder entdecken und das Lineal zerbrechen, am Menschen gibt es keine Gerade.“7

The children's chair Ringnor by Luigi Colani stacked and in dialogue with a 1902 chair by Richard Riemerschmid, as seen at Luigi Colani and Art Nouveau, Bröhan-Museum, Berlin

Kinderstuhl Ringnor von Luigi Colani, gestapelt und im Dialog mit einem Stuhl aus dem Jahr 1902 von Richard Riemerschmid, gesehen bei „Luigi Colani und der Jugendstil“, Bröhan-Museum Berlin

Luigi Colanis Ablehnung des Primats des Geometrischen in der Gestaltung erinnert uns auch an die sogenannte Typisierungsdebatte, die sich 1914 auf der Ausstellung des Deutschen Werkbundes in Köln zuspitzte. In diesem Zusammenhang plädierte Hermann Muthesius, wir vereinfachen es hier mal, für die Verwendung universeller, standardisierter Typen als Hilfsmittel für die Konstruktion, während Henry van de Velde für die Unabhängigkeit der/des einzelnen Künstlers/Künstlerin, für das Primat des künstlerischen Prozesses eintrat.

Welche Position Colani in einer solchen Debatte eingenommen hätte, erschließt sich einem nach der Ausstellung „Luigi Colani und der Jugendstil“ relativ leicht. So wie bei van de Velde beruhen auch Colanis Argumente auf einem künstlerischen Selbst- und Weltverständnis. Diese  Gestaltungsauffassung entwickelte sich an der Hochschule für bildende Künste, an der Sorbonne und auch während seiner kurzen Anstellung in den frühen 1950er Jahren bei der Douglas Aircraft Company in Santa Monica, Kalifornien, wo er in der Abteilung für neue Materialien arbeitete. Er bekam so nicht nur eine frühe Einführung in die industrielle Verarbeitung neuer, synthetischer Materialien, sondern vor allem auch eine erste praktische Gelegenheit, die freie Kunst der Bildhauerei mit den Gesetzen der Wissenschaft und den Formen der Natur zu verbinden, um funktionales Design zu schaffen.

Hier wird deutlich, dass Luigi Colanis Renaissance des Jugendstils auch eine Weiterentwicklung des Jugendstils bedeutete; dass, während im Jugendstil das Florale weitgehend dekorativ und symbolisch eingesetzt wurde, die fließenden Linien und abgerundeten Kurven bei Colani durchaus funktional sind.

Dieses Formverständnis lenkt den Blick auf die Entwicklung von der schweren, ostentativen Dekoration der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, der Reduktion und Ordnung dieser Dekoration während des frühen Jugendstils und ihrer weiteren Reduktion, Rationalisierung und Auslöschung auf den Weg zur schmucklosen Geometrie der Moderne. Der Weg zu Luigi Colani, so würden wir argumentieren, ist derselbe, ein Weg, der mit ähnlichen Intentionen beschritten wurde. Nur, dass Colani die Schnörkel und das Florale des Jugendstils nicht entfernte, sondern daraus einen Nutzen zog. Er rationalisierte und optimierte diese Aspekte so, dass sie funktional wurden, ohne dass dabei die sinnliche Aufregung und Emotion verlorenging.

Luigi Colani war gewiss nicht der einzige Nachkriegsdesigner, der Arbeiten mit fließenden Formen entwickelt hat. Neben dem bereits erwähnten Verner Panton könnte man unter vielen anderen auch Pierre Paulin, Joe Colombo oder Eero Saarinen, und unter denen, die ihre Karriere in der Zwischenkriegszeit begannen, Alvar Aalto nennen. Ähnliches trifft auf Arne Jacobsen zu, dessen eigenes Verhältnis zur Natur und zum Jugendstil wir im Rahmen der Ausstellung „Arne Jacobsen – Dänemarks Designer“ diskutiert und untersucht haben.

Das Alleinstellungsmerkmal bei Luigi Colani, so die AusstellungsmacherInnen, ist der sehr bewusste und überlegte Schritt zurück zum floralen Ornament des Jugendstils und wie sich Luigi Colani von dort aus als Künstler, nicht als Designer, vorwärtsbewegte.

The armchair Swinger by Luigi Colani, and behind it a 1965 prototype, as seen at Luigi Colani and Art Nouveau, Bröhan-Museum, Berlin

Der Sessel Swinger von Luigi Colani, dahinter ein Prorotyp von 1965, gesehen bei „Luigi Colani und der Jugendstil“, Bröhan-Museum Berlin

Obwohl es sich oberflächlich betrachtet um eine Luigi-Colani-Ausstellung handelt, handelt „Luigi Colani und der Jugendstil“ ebenso sehr vom Jugendstil wie von Luigi Colani. In vielerlei Hinsicht  ist Luigi Colani eher ein Hilfsmittel, um sich einem besseren Verständnis des Jugendstils  anzunähern. Die Umkehrung ist jedoch genauso zutreffend: Die Ausstellung nutzt den Jugendstil, um sich einem besseren Verständnis von Luigi Colani anzunähern.

Genau das wird insbesondere durch die großzügige Verwendung der Seiten aus Colanis Manifest „Ylem“ aus dem Jahr 1971 im Ausstellungsraum verständlich. Sie werden sowohl als Hintergrundmaterial eingesetzt als auch zur Unterstützung der verschiedenen Themen. Zudem liefern sie einen Einblick in Colanis Gedanken zu Gesellschaft und Menschheit und wie diese sich weiterentwickeln könnten und sollten. Das Datum der Veröffentlichung erinnert daran, dass Colanis Positionen im Zusammenhang mit den Entwicklungen und Revolutionen der 1950er und 60er Jahre entstanden sind, die mit den Ereignissen von 1968 und der Ölkrise der frühen 70er Jahre ganz besonders greifbar wurden. Es wird deutlich, dass es bei Colanis Design nicht um einen „Stil“ geht, sondern um eine Antwort auf die vorherrschenden Fragen der Zeit. Bei seinen Antworten auf diese Fragen wurde Colani vom Jugendstil beeinflusst.

Dieser Einfluss geschah nicht zufällig und schon gar nicht ohne Grund, denn obwohl es sich um sehr unterschiedliche Kontexte handelt, waren viele Themen des frühen 20. Jahrhunderts und der späten 1960er, frühen 1970er Jahre dieselben. Man denke etwa an das wachsende Bewusstsein für die Auswirkungen der Zivilisation auf Umwelt und Natur, an die ersten ökologischen Garten- und Vegetarierbewegungen im frühen 20. Jahrhundert, an Themen, die von den Hippies der 1960er Jahre in den Vordergrund gerückt wurden. Oder auch an die Gleichberechtigung der Geschlechter: Die Emanzipationsbewegung der 1960er/70er Jahre spiegelte sich im frühen 20. Jahrhundert wider, einer Gesellschaft, die zwar noch sehr patriarchalisch strukturiert war, sich aber zumindest in die Richtung von Akzeptanz und der Idee von Gleichberechtigung bewegte.

Und dennoch werden sowohl der Jugendstil als auch Luigi Colani oft auf fließende Linien, Kurven und auf das florale Moment reduziert. Dieser Umstand stellt eines der Kernprobleme des Nachkriegsdesigns heraus: Dieses Problem liegt in der Objektivierung begründet, in dem Verständnis von „gutem Design“, das auf formalen Merkmalen basiert und nicht im jeweiligen Objekt begründet liegt.

Luigi Colanis oben zitierte Klage über eine „ultrakonservative Haltung zum Design, die es bis  heute nicht wagt, das Bauhaus infrage zu stellen“, muss um, „obwohl das Bauhaus selbst alles infrage stellt“ ergänzt werden. Und diese Infragestellung brachte Auffassungen und einen neuen formalen Ausdruck hervor.

Ähnlich verhält es sich mit dem, was Ray Eames und Charles Eames mit stillschweigender Unterstützung von George Nelson bei Herman Miller in den 40er und 50er Jahren erreicht haben, und Ähnliches trifft auch auf die italienischen Radikalen der 1960er und 70er Jahre und auf die Postmodernen der 80er Jahre zu. Allesamt stellten sie „alles infrage“. Ihre Arbeiten werden heute, wie auch die der FunktionalistInnen der Zwischenkriegszeit, allzu oft als Schablonen für Design und nicht als Impulse betrachtet.

Womit wir wieder bei „Luigi Colani und der Jugendstil“ wären, denn in beiden Fällen wird normalerweise nur selten über das Oberflächliche hinausgeblickt. „Luigi Colani und der Jugendstil“ ist also eine Einladung, eine Aufforderung, tieferzugehen und die Oberflächlichkeiten hinter sich zu lassen.

Ylem by Luigi Colani, as seen at Luigi Colani and Art Nouveau, Bröhan-Museum, Berlin

Ylem von Luigi Colani, gesehen bei „Luigi Colani und der Jugendstil“, Bröhan-Museum Berlin

 

„Luigi Colani und der Jugendstil“ ist eine kleine Ausstellung, die jedoch mit ihren Reflexionen, den Überlegungen und Diskussionen, die sie anregt und ermöglicht, weit über ihren inhaltlichen und räumlichen Rahmen hinausgeht. Und glücklicherweise wird nur sehr wenig von dem Automobildesign gezeigt, für das Colani so bekannt ist. So sehr wir diese Tatsache begrüßen, werden sie andere infrage stellen. Aber der Ausstellung „Luigi Colani und der Jugendstil“ geht es auch nicht um die von Luigi Colani realisierten Objekte, sondern um eine Annäherung an Ideen, Positionen und Auffassungen, die sein Werk untermauerten. Es geht, wenn man so will, um das Warum, nicht um das Was.

Und das heißt nicht, dass die Automobile ausgeschlossen wären. Sie sind zu sehen, einschließlich einer Karosserie des 1960er Colani GT und einer Seite aus Ylem, die seine sehr offensichtliche Abscheu gegenüber dem Privatwagen als Form des urbanen Transportmittels zum Ausdruck bringt, und die damit einen Zugang zum Umweltverständnis ermöglicht, das einen Großteil von Colanis Arbeit auszeichnet. Denn Colani verstand den Menschen als Teil der Natur und nicht als Herren über die Natur.

In erster Linie aber ist „Luigi Colani und der Jugendstil“ eine Auseinandersetzung über Möbel, bzw. liefert eine logische Grundlage für eine solche Auseinandersetzung. Denn seine Frustration über die „doofe“, „saudumme“ westdeutsche Möbelindustrie war in vielerlei Hinsicht der Ausgangspunkt für seine Karriere als Produktdesigner, und auch für seine Überlegungen zur Notwendigkeit einer „Renaissance des Jugendstils“. Diese Diskussionsgrundlage lässt jedoch auch einige Momente zu, die man unabhängig vom weiteren Diskurs und einfach in Form von eigenständigen Objekten genießen kann. Darunter ein unverschämtes, aber nicht indiskutables oder anstößiges „Curry Yellow“-Badewaschbecken von 1979 für Villeroy & Boch, seine Pool-Sitzlandschaft für Rosenthal von 1970/71, sein Kinderhocker Zocker und sein erwachsenes Pendant Der Colani für Kinderlübke bzw. Top System Burkhard Lübke. Arbeiten, die ihren Ursprung in vielerlei Hinsicht in der Zeit vor dem Jugendstil, nämlich bei viktorianischen Lesesesseln haben, und die verzweifelt nach einer Neuauflage schreien. Wir hoffen, dass jemand unsere Klage erhört.

A Colani GT bodywork, as seen at Luigi Colani and Art Nouveau, Bröhan-Museum, Berlin

Ein Colani GT Karosserie-Modell, gesehen bei „Luigi Colani und der Jugendstil“, Bröhan-Museum Berlin

Wir haben Luigi Colani nie kennengelernt, aber er vermittelt den Eindruck von jemandem, der keine Scheu vor sich selbst hatte. Sicherlich ist die Vermarktung der Marke Luigi Colani genauso wichtig für seine Geschichte wie die Werke selbst. Allerdings sollten die Zigarren, die Provokationen, die Effekthascherei, das Ego und die Frage, ob man ihn hätte kennenlernen wollen, nicht von den Werken ablenken.

Die in der Ausstellung präsentierten Werke erlauben nicht nur Reflexionen und Überlegungen zu Luigi Colanis Welt- und Designverständnis und seinem Platz in der Geschichte des deutschen Nachkriegsdesigns, sie werfen auch Fragestellungen zu Themen wie  u.a. Substanzialität durch Form und Ehrlichkeit im Design auf. Es geht um Ergonomie, nicht nur bei Möbeln, sondern im Kontext all unserer Gebrauchsgegenstände, und um die Frage, warum so viele Objekte ihre Form über Jahrhunderte behalten haben, ohne dass diese Form jemals infrage gestellt wurde. Kunststoff im Möbeldesign wird zum Thema, und einmal mehr kommt die Frage auf, ob unser heutiges Kunststoffproblem die Schuld des Kunststoffs ist oder die unsere? Die Ausstellung stößt Reflexionen zum Verhältnis von Form und Funktion, zu Ästhetik, Funktionalität, zur Beziehung zwischen Objekt und BenutzerIn und zum Jugendstil an.

„Luigi Colani und der Jugendstil“ läuft noch bis Sonntag, den 30. Mai, im Bröhan-Museum, Schlossstraße 1a, 14059 Berlin.

Alle Details, auch zum begleitenden Rahmenprogramm, finden Sie unter www.broehan-museum.de/luigi-colani-and-art-nouveau.

Wie immer in diesen Zeiten bitten wir Sie, sich vorab mit den aktuellen Regeln bezüglich Ticketverkauf, Eintritt, Sicherheit, Hygiene, Garderobe etc. vertraut zu machen. Und bleiben Sie während Ihres Besuchs bitte verantwortungsvoll und neugierig…

1. Luigi Colani at the opening of the exhibition Salon 1900 – Kunst und Gewerbe at Kösters, Münster April 27th 1977, quoted in Peter Dunas, Luigi Colani und die organisch-dynamische Form seit dem Jugendstil, Prestel, München, 1993

2. The Luigi Colani biography, certainly his early years is at best sporadically documented, so much so that there is no biography in either Luigi Colani and Art Nouveau the exhibition nor the catalogue. Most sources simply state his date of birth as 1928, the August 2nd reference can be found in Peter Dunas, Luigi Colani und die organisch-dynamische Form seit dem Jugendstil, Prestel, München, 1993.

3. The name change came in 1957, allegedly, because all successful designers were Italian….. but it also very neatly underscores the deliberate and intensive marketing of his person, that the brand Luigi Colani is as much a product as any objects he designed.

4. Interview with Luigi Colani, Experiment 70. Designvisionen von Luigi Colani und Günter Beltzig, Almut Grunewald and Tobias Hoffmann [Eds.], Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt, 2002

5. ibid

6. This quote is widely attributed to Ettore Sottsass, but we are unaware of its origins or the context in which it was made. We’re still looking, and are confident that one day we will find it…..

7.Luigi Colani quoted in Peter Dunas, Luigi Colani und die organisch-dynamische Form seit dem Jugendstil, Prestel, München, 1993