Im Dezember 1969 strahlte der österreichische Fernsehsender ORF ein halbstündiges Porträt des Architekten Hans Hollein aus, in dem unter anderem Holleins Projekt “Mobiles Büro” vorgestellt wurde: eine aufblasbare Plastikblase, in der eine Person sitzen und arbeiten konnte. „Klingt vielleicht etwas verrückt“, so der Moderator.
Bei dem Projekt handelte sich um ein Gerät, bzw. ein Konstrukt, das die Schaffung eines privaten Bereichs inmitten eines öffentlichen Raums ermöglichte. Das war im Jahr 1969 zweifellos eine „etwas verrückte“ Idee.
Wie sieht das im Jahr 2022 aus?
Der am 30. März 1934 in Wien geborene Hans Hollein studierte Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien, bevor er 1958 einen zweijährigen Aufenthalt in den USA antrat. Dieser Aufenthalt führte ihn zunächst an das Illinois Institute of Technology (IIT), Chicago, und anschließend an die University of California, Berkeley, wo er 1960 seinen Master of Architecture mit der Dissertation “Space in Space in Space” abschloss. Die schriftliche Ausarbeitung bestand, wie der Titel Plastic Space treffend andeutet, vor allem aus Reflexionen über die Beziehungen zwischen dem Menschen und den von ihm bewohnten und genutzten Räumen im Kontext der Architektur. Wenn man so will, handelte es sich um eine Befragung dessen, was Architektur ist und was Architektur im Kontext des Menschen und der von ihm bewohnten und genutzten Räume sein kann.
Diese Überlegungen und Fragen wurden durch weitere in den 1960er Jahren, dem radikalsten aller Jahrzehnte in der europäischen Architektur, ergänzt und verfeinert, die sich schließlich in „Mobile Office“ niederschlugen, einem Raum, der buchstäblich, physisch, ein Raum aus Plastik ist.
Dieser Plastikraum war seiner Zeit weit voraus: Die 1960er Jahre waren zweifellos eine Zeit, in der sich Designer, Künstler und Architekten unterschiedlicher Couleur nicht nur mit Kunststoffen, sondern auch mit aufblasbaren Kunststoffen beschäftigten. Während beispielsweise in New York Andy Warhol Galerieräume mit frei schwebenden Silberwolken füllte oder in Mailand Lomazzi, D’Urbino und De Pas aufblasbare Sessel entwickelten, experimentierten in Wien Haus-Rucker-Co oder Coop Himmelb(l)au mit aufblasbarer Architektur.
Holleins Plastikraum ist wiederum auch sehr zeitgemäß: nicht etwa wegen der Covid-Pandemie, auch wenn er mühelos social distancing ermöglicht, sondern weil er uns zum Nachdenken über Arbeit und Büro anstößt.
Hans Holleins „Mobiles Büro“, wie es 1969 vorgestellt wurde, hat zweifellos eine Menge Schwachstellen. Es ist höchst unpraktisch, wenn man nicht gerade ein rüstiger Architekt Mitte 30, ein urbaner Berufseinsteiger oder ein Yogi ist, der gerne über den Boden hinein kriecht, dann im Schneidersitz auf dem Boden sitzt und mit einem Minimum an Zubehör auskommt.
Auch im Zusammenhang mit der “Mobilität” ist Holleins Projekt nicht allzu gut gealtert: als Hollein auf dem Außenfeld des Flughafens Aspern sitzt, dient die Blase in erster Linie dazu, ihn vor dem Wetter zu schützen, was an diesem Tag nicht sein größtes Problem zu sein schien. Er hätte also auch ohne seine Blase auf dem Boden sitzen und genauso effizient arbeiten können. Es ist verdammt heiß da drinnen“, hört man ihn (auf Englisch) aus dem Off murmeln, eine Hinweis auf den ewigen Konflikt zwischen Plastikblasen und der Sonne.2 Aber wäre sein Plastikraum bei Regen ein angenehmerer Ort zum Sitzen und Arbeiten gewesen? Oder wäre es vielleicht eine besser Idee gewesen einfach in ein Café zu gehen? Auch wenn es selbst in Wien im Jahr 1969 wohl noch nicht so viele Cafés gab, sind sie doch heute ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Das allgegenwärtige Café hat sich, so ließe sich argumentieren, als der bessere Ort für mobiles Arbeiten, als besserer Ort für ein mobiles Büro erwiesen als eine aufblasbare Plastikblase, die in einem Koffer mitgeführt wird. Das ist letztendlich wenig überraschend.
Solche Überlegungen, solche Defizite, lassen sich aber nur geltend machen, wenn man Holleins “Mobiles Büro” als buchstäblichen, physischen Plastikraum versteht und nicht als einen konzeptuellen, poetischen, plastischen Raum, bzw. als einen Vorschlag. Denn auch wenn Hans Hollein im ORF-Porträt die ganze Zeit in seiner Box sitzt, denkt er doch stark über den Tellerrand hinaus. Er stellt herrschende Konventionen und Auffassungen in Frage. Das betrifft nicht nur die Rolle des Architekten, sowie Funktion und Ausrichtung der Architektur, sondern auch die vorherrschenden Konventionen und Auffassungen davon, was ein Büro, was ein Büroraum ist und was es braucht, um produktive Büroarbeit zu fördern und zu unterstützen.
Außerdem stellt er auch Fragen zur mobilen Kommunikation, die, so würden wir argumentieren, 1969 noch nicht sehr populär war. Zwar landeten 1969 die ersten Menschen auf dem Mond, das tägliche Leben war aber noch sehr stark durch physische Verbindungen geprägt. Nicht aber für einen Hans Hollein, der Architektur als „ein Medium der Kommunikation“3 verstand und sich intensiv dafür interessierte, wie Kommunikation in all ihren Erscheinungsformen durch zusätzliche Mobilität zum Nutzen aller verbessert werden könnte. Das Telefon zum Beispiel, das er in seiner Blase benutzt, hätte 1969 einfach nicht funktionieren können. Aber er tat so, als würde es funktionieren, um eine neue, mögliche Zukunft vorzuschlagen, und sagte damit unsere aktuelle Zukunft voraus.4
Das gilt in gewisser Weise auch für seinen aufblasbaren Raum.
Während es sich aber 1969 um ein mobiles Büro gehandelt haben mag, würde man es 2022 eher als ein (statisches) temporäres Büro bezeichnen. Ein temporäres Büro in Büro oder Homeoffice.
Wer kann schon leugnen, wie schön es ist, seinen Schreibtisch von einem permanenten öffentlichen Raum in einen temporären privaten Raum zu verwandeln, in dem man zum Beispiel konzentriert arbeiten, an einem Virtual-Reality-Meeting teilnehmen oder ein Telefongespräch bzw. eine Videokonferenz führen kann, ohne dass Umgebungsgeräusche stören oder man den Inhalt seiner Gespräche mit den anderen teilen muss. Und das, ohne dass Sie Ihren Schreibtisch verrücken müssen. Besonders praktisch ist es auch einen Teil des ständigen öffentlichen Büroraums in einen vorübergehenden privaten Besprechungsraum zu verwandeln, ohne den Raum umgestalten zu müssen.
Die Frage ist, wie man das erreichen kann?
Hans Holleins Vorschlag kann nicht die Antwort sein, aber er bleibt höchst informativ und lehrreich. Er hat nichts von seiner Ambitioniertheit und Frechheit verloren, sei es als physischer Raum, als konzeptioneller Raum oder als strukturierender Raum. Daher, so würden wir weiter argumentieren, können uns Reflexionen und Überlegungen zu Holleins „Mobile Office“ nützliche Antworten auf heutige Fragen liefern. Bei Holleins “Mobile Office” handelt es sich schließlich um eine zugängliche Verkörperung von Hans Holleins Positionen und Auffassungen zu jener Zeit. Einer Zeit, in der er und viele andere in Wien sich mit grundlegenden, theoretischen Fragen der Architektur beschäftigten, die über Architektur als Bauwerke hinausgingen und sie als Beziehungen, Interaktionen, Erweiterungen, als greifbar und nicht greifbar verstanden. Hollein warf also Fragen auf, die zur damaligen Zeit oft nicht beantwortet werden konnten, die wir aber heute praktisch angehen können.
Holleins “Mobiles Büro” kann uns als eine theoretische Position, die im Zusammenhang mit kritischen, spekulativen, ungehemmten Reflexionen und Hinterfragungen der Themen Raum, Mensch und Architektur entstanden ist, ein neues Verständnis näher bringen, das wir heute aufgrund neuer Technologien und neuer sozialer Systeme unbedingt weiter entwickeln müssen.
So bringt uns das Projekt ersten Überlegungen zu der Frage näher, was Arbeit und Büro im Zeitalter der Massen-Telekommunikation sind. Überlegungen, die hier ohne die angesammelten Konventionen, Vorurteile, Altlasten oder die unaufhörlichen Forderungen nach Monetarisierung unserer Zeit angestellt werden können.
Das, was die Leere von Holleins Blase füllt, definiert und belebt, kann uns nicht nur bei Überlegungen über das zeitgenössische Büro als nicht nur mobil, sondern auch als temporär, als transformierbar und als reaktionsfähig dienen, sondern auch bei der Entwicklung neuer Innenarchitektursysteme, neuer Schreibtisch/Arbeitsplatz-Konzepte, neuer Stuhl-Konzepte, neuer Sofa-Konzepte, die die sofortige Bereitstellung eines Raums im Raum ermöglichen. In einem Zeitalter, in dem jedes Bürogebäude, jede Hotellobby, jedes Café, jede Wohnung mit Strom, Telefon und Internet ausgestattet ist6, warum nicht auch einen Raum mit Druckluft füllen? Lassen wir die Hüpfburg hinter uns und begreifen wir sie als ein konzeptionelles, rhetorisches Werkzeug der 1960er Jahre. Ermöglichen heute neue synthetische Materialien schnell einziehbare oder schnell faltbare Lösungen? Oder können Technologien für virtuelle und erweiterte Realität lebensfähige virtuelle Blasen schaffen? Virtuelle Plastikräume?
Obwohl oder vielleicht gerade weil das “Mobile Office” über das ORF-Porträt von 1969 hinaus nie eine reale Sache war, ist Hans Holleins Mobile Office im Kontext der Überlegungen, die es zu Raum, Mensch und Architektur ermöglicht, und auch aufgrund der Überlegungen, die es 1969 zu der Frage ermöglichte, was ein Büro ist, zweifelsohne ein echter Meilenstein in der Geschichte des Bürodesigns.
Es handelt sich um genau diese Art „verrückte“ Idee, von der wir heute noch ein paar mehr gebrauchen könnten……
Das komplette ORF-Hans-Hollein-Porträt kann dank architekturtheorie.eu/Fakultät für Architektur der Universität Innsbruck unter https://vimeo.com/543071261 angesehen werden (der Abschnitt über das Mobile Office beginnt bei ca. 08:47)
Den Abschnitt über das Mobile Office mit englischen Untertiteln und weitere Überlegungen zu Hans Hollein/Mobile Office von Andreas Rumpfhuber finden Sie dank des Postgraduiertenprogramms der Universität Thessalien, Griechenland, unter www.youtube.com/watch?v=RKSWEW7vYak
1. Hans Hollein Plastic Space, MA Thesis, University of California, Berkeley, Juli 1960 Verfügbar über http://www.hollein.com/index.php/ger/Schriften/Texte/Plastic-Space (Zugriff am 23.03.2022)
2. Das Schimpfwort ist auf www.youtube.com/watch?v=RKSWEW7vYak deutlich zu hören (ca. 03:10), aber nicht auf https://vimeo.com/543071261 (sollte bei ca. 10:10 sein), und daher kann es sich um ein Hollein-Schimpfwort handeln oder auch nicht. Aber ob es einer ist oder nicht, ändert nichts an der klassischen Gleichung „Plastikblase + Sonne = luftlose Hitze“.
3. Hans Hollein, Alles ist Architektur, Bau. Schrift für Architektur und Städtebau, Vol, 23, Nr. 1/2, Wien 1968 Verfügbar über http://www.hollein.com/index.php/ger/Schriften/Texte/Alles-ist-Architektur (Zugriff am 23.03.2022)
4. Kommunikation, zeitgemäße Kommunikation, war für Hans Hollein ein großes Thema und so schlug er 1966 als Erweiterung der Wiener Universität ein Fernsehgerät vor. Und sagt damit freudig das Online-Fernstudium rund 20 Jahre vor dem Internet voraus. Und hinterfragt dabei die Architektur.
5. Hans Hollein, Alles ist Architektur, Bau. Schrift für Architektur und Städtebau, Vol, 23, Nr. 1/2, Wien 1968 Verfügbar über http://www.hollein.com/index.php/ger/Schriften/Texte/Alles-ist-Architektur (Zugriff am 23.02.2022)
6. Wir verallgemeinern und vereinfachen hier natürlich stark, und dass als rhetorisches Mittel nicht „alle“ Häuser solche haben, ist unsere Welt immer noch, und trotz aller Logik, die uns sagt, dass es möglich ist, ein grausam ungerechter Ort…….
Tagged with: Büro, Hans Hollein, Meilensteine, Mobile Office, Office Tour, Wien