Verlorene Klassiker des Möbeldesigns: Sesam-Bar von Oeseder Möbel-Industrie

Im Januar haben wir einen Post zur IMM Cologne 1962 veröffentlicht und dabei die Ausstellung von 1962 in den Kontext der IMM Cologne 2012 gesetzt.

Von dem ganzen Material, das wir in Vorbereitung auf den Post gelesen und analysiert haben, war die Seite, die auf uns den meisten Eindruck gemacht hat, eine Werbeanzeige für die Sesam-Bar von Oeseder Möbel-Industrie: ein kleiner Eckschrank mit einem drehbaren Innenfach mit einem Bücherregal auf der vorderen und einer Minibar auf der hinteren Seite. Der Name kommt natürlich vom allseits bekannten Zauberspruch „Sesam, öffne dich!“.

Lost Furniture Design Classics Sesam-Bar by Oeseder Möbel-Industrie

Verlorene Klassiker des Möbeldesigns: Sesam-Bar von Oeseder Möbel-Industrie (Foto: LWL)

Die Sesam-Bar ist ein Objekt, das geradezu danach schreit vergöttert zu werden. Mal abgesehen von ihrer überaus exquisiten Form und der Tatsache, dass das Barfach über isolierte Halter verfügt, um vorgekühlte Flaschen kühl zu halten, und eine verspiegelte Rückwand den Anschein erweckt man hätte mehr Alkohol als es tatsächlich der Fall ist, gefällt uns vor allem die Geschichte hinter dem Stück.

In den späten 1950ern auf den Markt gebracht, war die Sesam-Bar die Antwort auf die wachsende Zahl an Fernsehern in deutschen Privatwohnungen dieser Zeit und dem daraus resultierenden Bedarf an niedrigen, platzsparenden Möbeln, auf die man die Geräte stellen konnte. 1956 kam eine Version mit einer Drehscheibe auf der Oberseite auf den Markt, mit deren Hilfe der Fernseher gedreht werden konnte. Dann kam jemand auf die geniale Idee, die Drehscheibe nach innen zu verlagern und so Platz zum Verstauen von Flaschen zu schaffen, für den Fall, dass man Freunde und Nachbarn auf einen Drink einlud. In den frühen 1960er Jahren wurde Home Entertainment nämlich auch für Normalbürger erschwinglich und war somit nicht länger nur der „Bourgeoisie“ vorbehalten. Die Nachbarn abends auf einen Drink und ein paar gesalzene Erdnüsse einzuladen, war aber nur der Vorgeschmack auf die Dinnerpartys der 1970er Jahre.

Doch obwohl in den 1960ern fast jeder Hochprozentiges trank, durften damals nur die Reichen und Mächtigen das auch zuhause zur Schau stellen. Als normale Arbeiterfamilie konnte man seinen Schnaps und Likör dagegen noch nicht offen zeigen. Das hätte bei Besuchern, insbesondere bei älteren Besuchern mit etwas konservativeren religiösen Ansichten, einen falschen Eindruck erwecken können. Von daher verstauten die meisten Familien ihre alkoholischen Getränke lieber irgendwo in einem Schrank. Sie in einem Geheimfach hinter Büchern zu verstecken, könnte jedoch auch schnell so wirken als wolle man sich sein Alkoholproblem nicht eingestehen. Oder wie Simon und Garfunkel vielleicht sagen würden: „Hide it in a hiding place where no one ever goes / Put it in your living room corner unit on the revolving shelf behind the books“.

Lost Furniture Design Classics Sesam-Bar by Oeseder Möbel-Industrie in use

Sesam-Bar von Oeseder Möbel-Industrie. Versteckt den Pernod, der Vikar kommt!

Wir jedenfalls finden das ganz toll! Nicht zuletzt deshalb, weil es wunderbar diese Unsicherheit unterstreicht, die wir alle empfinden, wenn wir etwas genießen während wir gleichzeitig das Gefühl haben, eben deshalb etwas Falsches zu tun, etwas Verbotenes.

Außerdem ist die Sesam-Bar von Oeseder Möbel-Industrie durch all die geheimen Fächer und den Trick mit dem Spiegel das perfekte Büromöbel für einen hinterhältigen James-Bond-Bösewicht, um seinen Wodka zu verstecken, sodass 007 seinen Martini nicht mehr genießen kann.

Aber egal wie die Sesam-Bar genutzt wurde, sie regte offenbar die Fantasie der Westdeutschen an und verkaufte sich angeblich über 500 000 Mal!1

Eine halbe Million Mal! Wir haben die Zahl aus der Osnabrücker Zeitung und obwohl wir diese normalerweise eher selten nutzen, um Fakten zum Möbeldesign zu prüfen, stellen wir sie nicht in Frage, da die Zahl im Zuge einer Ausstellung in Gütersloh im Jahr 2007 veröffentlicht wurde, bei der auch die Sesam-Bar gezeigt wurde.

Und dann? Nach der Osnabrücker Zeitung setzte die wachsende Beliebtheit speziell angefertigter Home-Entertainment-Geräte in den späten 60ern der Sesam-Bar ein Ende. Außerdem können wir uns gut vorstellen, dass aufgrund der allgemeinen Stil- und Geschmacksänderungen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre und der damit verbundenen Verbreitung bunter Plastikmöbel, klassische Holzprodukte wie eben auch die Sesam-Bar schnell aus der Mode kamen.

Oeseder Möbel-Industrie produziert die Sesam-Bar jedenfalls schon lange nicht mehr und heute ist sie komplett verschwunden.

Wenn man bei Google nach Bildern der Sesam-Bar sucht, findet man nur etliche Seiten mit Körnerriegeln. Das wäre 1962 wahrscheinlich noch kein Problem gewesen, weil Sesamsamen damals fast nur von Wellensittichen gegessen wurden. Und wenn man auf der beliebtesten Online-Auktionsplattform nach „Sesambar“, „Sesam-Bar“ oder „Oeseder Möbel-Industrie“ sucht, findet man… 3-2-1-NICHTS, nada, niente…!

Welch ein Hohn…

Ein absolut genialer, verlorener Klassiker des Möbeldesigns…

1. http://www.noz.de/lokales/14167897/einrichtungsklassiker-der-endfuenfziger besucht am 06.08.2012

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