Frankfurts damaliger Bürgermeister Ludwig Landmann schrieb 1926, eine neue Generation, ein neues Zeitalter, müsse Formen und Haltungen für ihre innere und äußere Welt entwickeln, die ihrem Wunsch nach Wohlbefinden und ihren Idealen entsprechen.1
Die Ausstellung „Moderne am Main 1919-1933“ im Museum Angewandte Kunst Frankfurt zeigt diese Entwicklungen in Frankfurt und Umgebung und beleuchtet besonders den Beitrag, den die Region zum Verständnis von Architektur und Design zwischen den Kriegen geleistet hat und das Erbe davon.
Zwar konzentrieren sich Überlegungen zur Entwicklung von Architektur und Design in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Deutschland häufig auf Weimar und Dessau, doch die Wahrheit ist, wie immer, viel komplizierter und auch interessanter. Abgesehen von den Nachbarn des Bauhaus‘, Leipzig, Halle und Dresden, erhielt die Bewegung auch Impulse aus u. a. München, Düsseldorf, Hagen und dem heutigen Bundesland Hessen: Die Gründung der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt im Jahr 1899 trug zur Förderung des Jugendstils bei, während Frankfurt zwei Jahrzehnte später und 30 Kilometer weiter nördlich für die Entwicklung dessen, was wir heute als Internationale Moderne verstehen, gleichermaßen wichtig war. Unter dem Namen „Neues Frankfurt“ entwickelten sich die Stadt und ihre Umgebung in den Jahren zwischen den Kriegen zum Zentrum vieler kreativer und technischer Disziplinen, was häufig auf ein Stadtplanungsprojekt und eine Küche reduziert wird. Um zu zeigen, dass in dieser Zeit viel mehr geschah und den Beitrag der Stadt und der Region zu verdeutlichen, finden im Jahr 2019 viele Ausstellungen zu diesem Thema in Frankfurt statt. Den Anfang macht das Museum Angewandte Kunst mit „Moderne am Main 1919-1933“.
Da neue Entwicklungen und das Verständnis von Architektur und Design nicht isoliert betrachtet werden können, beginnt die Ausstellung „Moderne am Main 1919-1933“ mit einer Virtual-Reality-Installation von Nadine Auth und Caspar Schirdewahn, die dem Besucher einige Politiker, Designer, Architekten und Unternehmer, die zu dem was folgt beigetragen haben und vor allem die Netzwerke, durch die die Beiträge mehr Bedeutung erlangt haben, vorstellt. Es geht auch um den Knotenpunkt, aus dem alles andere hervorging, um den anfangs zitierten Ludwig Landmann.
Ludwig Landmann wurde 1924 zum Bürgermeister von Frankfurt gewählt und hatte, wie bereits thematisiert, die Vision, Frankfurt wieder zu einem internationalen Knotenpunkt zu machen. Seit dem Mittelalter hatte sich Frankfurt nicht nur am Main und in unmittelbarer Nähe zum Rhein, sondern auch an den großen Nord-Süd- und Ost-West-Überlandrouten zu einem wichtigen Handelszentrum entwickelt. So trafen sich beispielsweise in Frankfurt hanseatische Kaufleute mit ihren Kollegen/Antragstellern aus Süddeutschland, den Alpenregionen und den heutigen Ländern Frankreich, Ungarn, Polen, u. a.. Diese Handelstradition machte Frankfurt zu einem der wichtigsten europäischen Zentren und blieb bis ins 20. Jahrhundert bestehen. Landmann versuchte, die Position und den Einfluss Frankfurts über den Handel hinaus auszudehnen und Frankfurt als Stadt zu entwickeln, in der neue Ideen für die Gegenwart und die zukünftige Gesellschaft erforscht und entwickelt werden konnten, wo, wie es der Direktor des Museums Angewandte Kunst, Matthias Wagner K., formulierte, eine neue urbane Gesellschaft entstehen konnte, die ihre Position nutzen konnte, um diese Ideen weiter zu verbreiten. Als ersten Schritt zur Verwirklichung seiner Vision überwachte Landmann im Jahr 1919, während seiner Zeit als Stadtrat für Wirtschaft, Verkehr und Wohnungswesen, die Neugründung der Frankfurter Messe nach dem Krieg; in der Tat das, was Frankfurt einst als wichtige internationale Drehscheibe zu einer neuen Entwicklung verholfen hatte, und sorgte so dafür, dass die Stadt in den unmittelbaren Nachkriegsjahren international sichtbarer war.
Zusätzlich zur Messe wurde 1921 das so genannte Werkbundhaus eröffnet, ein Gebäude, das nicht nur dem Deutschen Werkbund und damit dem Verständnis seiner Mitglieder für zeitgenössische Kunst und Design einen ständigen Ausstellungsraum bot, sondern auch eine Reihe von Wechselausstellungen, wiederum vor allem zum zeitgenössischen Verständnis von Kunst und Design, veranstaltete. So trug es dazu bei, einen zeitgemäßen, modernen Geist in der Stadt und in ihren Industrie- und Gewerbegebieten zu fördern.
Obwohl alles positiv begann, führte die wirtschaftliche Lage der 1920er-Jahre dazu, dass die Messe allmählich an Bedeutung verlor; ihr Beitrag zur Wiederherstellung des Ansehens der Stadt in der Nachkriegszeit und zur Vermittlung der neuen Ideen der damaligen Zeit ermöglichte es jedoch, zwei weitere Säulen von Landmanns Vision aufzugreifen: die Kunstschule und das Kommunale Bauamt. Die Beiträge dieser Institutionen bilden einen großen Teil der Ausstellung „Moderne am Main“.
Ein Jahr nach der Wahl zum Bürgermeister ernannte Ludwig Landmann Ernst May zum Stadtbaurat und Martin Elsaesser zum Leiter des Hochbauamts und initiierte damit die Architektur- und Stadtplanungsprogramme sowie das Projekt Küchengestaltung, das den Funktionalismus der Zwischenkriegsmoderne in Frankfurt definiert. Diese Programme sind für das heutige Frankfurt erforderlich und ermöglichten nicht nur die Recherche neuer Bau- und Planungsmethoden, sondern, wie 1929 im Rahmen des Congrès internationaux d’architecture moderne in Frankfurt diskutiert, neue Finanzierungsmethoden.
Die Themen Architektur, Städtebau und Küche werden in der Ausstellung „Moderne am Main“ zwar nur kurz behandelt, jedoch ihren großen Auftritt bald im Beitrag des Deutschen Architekturmuseums bekommen. Trotz ihrer Kürze ermöglicht „Moderne am Main“ durch Präsentationen beispielsweise der in Frankfurt praktizierten Standardisierung oder der Rolle von Freiräumen in der Stadtplanung nicht nur eine schöne Einführung in die Architektur, die Stadtplanung und die Küchengestaltung, sondern leitet auch zu der Frage, inwiefern diese integrale Bestandteile einer größeren Komposition waren.
Wie man es in einem Museum für Angewandte Kunst und Design erwartet, stehen in der Ausstellung eher das Produkt, die Beleuchtung und die Möbel im Mittelpunkt, die für und in Verbindung mit der Architektur und dem Städtebau entworfen wurden. Ein besonders erfreuliches Beispiel dafür ist die Nachbildung einer Parkbank von Ferdinand Kramer, die in den 1920er- und 30er-Jahren Teil des Frankfurter Stadtbildes war. Viel interessanter für uns ist die Tatsache, dass die Nachbildung von der Frankfurter Co-Working-Werkstatt tatcraft produziert wurde. Denn in jedem Neuen Frankfurt 2.0, in jeder Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die „Formen und Haltungen für ihre Innen- und Außenwelt entwickeln will, die ihrem Wunsch nach Wohlbefinden und ihren Idealen entsprechen“, wären Zusammenarbeit, Werkstätten sowie eine offene Design und Sharing Economy ein zentrales Merkmal. Oder?
Während die Frankfurter Institutionen die Stadt weiterentwickelten und mit neuen Ideen und neuen Praktiken experimentierten, bildete die Kunstschule Frankfurt nicht nur eine neue Generation von Kreativen aus, sondern fungierte auch als wichtiger Partner für die lokale Industrie, die sich mit dem Zeitgeist, mit dem neuen Verständnis von Form, Funktion, Ästhetik und den neuen materiellen und technischen Möglichkeiten beschäftigen wollte.
Als die Kunstgewerbeschule und die Städelschule zusammengelegt wurden und sich zur gleichen Zeit abzeichnete, dass das Bauhaus Weimar verlassen musste, versuchte der Schulleiter Fritz Wichert, Gropius davon zu überzeugen, seine Schule nach Frankfurt zu verlegen, allerdings erfolglos. Es gelang ihm jedoch, mehrere Weimarer Bauhäusler für den Umzug nach Frankfurt und nicht nach Dessau zu gewinnen, darunter Josef Hartwig, Karl Peter Röhl, Adolf Meyer und Christian Dell, dessen Leuchten in der gesamten Ausstellung zu finden sind. Tatsächlich sind es so viele, dass „Christian Dells Leuchtendesigns“ eine angemessene Unterüberschrift für die Ausstellung wäre. Was keine Kritik ist, weit gefehlt, wir sind alle für mehr Christian Dell, besonders, wenn, wie in „Moderne am Main“, seine Werke nicht nur in den Kontext der Entwicklung der elektrischen Beleuchtung der damaligen Zeit gesetzt werden, sondern auch in Bezug zu Frankfurts Rolle in dieser Entwicklung.
Neben Werken von Dell und weiteren Lehrkräften präsentiert „Moderne am Main“ auch Arbeiten seiner Schüler und Absolventen, die in diesem Geist des Experimentierens und der Entwicklung entstanden sind und anschließend zu ihrer Weiterentwicklung beigetragen haben, z. B. eine sehr umfangreiche Präsentation von typografischen Werken von Lieselotte Müller, darunter viele für die Bauersche Gießerei und eine Sammlung, die, wie kürzlich im Rahmen der Ausstellung „Commercial Design instead of Applied Art?“ des Werkbundarchivs im Museum Dinge erwähnt, anschaulich erklärt, wie eine neue Klarheit und Reduktion der Grafik der damaligen Zeit nicht nur die Klarheit und Reduktion des 3D-Designs widerspiegelt, sondern auch dazu beigetragen hat, die Entwicklung und Akzeptanz neuer Konventionen und Verständnisse zu unterstützen und voranzutreiben. Dies trifft besonders auf das Neue Frankfurt zu, das bekanntlich eine eigene Schriftart von Paul Renner namens „Futura“ hatte.
Neben den institutionellen Beiträgen präsentiert „Moderne am Main“ auch Beispiele dafür, wie Frankfurt und Umgebung in den verschiedensten Medien und Bereichen eine wichtige Rolle bei den Entwicklungen der damaligen Zeit spielten: zum Beispiel im Filmbereich durch die Werke von Oskar Fischinger und in der Musik durch die Werke von Paul Hindemith. Manche Beiträge erinnern daran, Entschuldigung an alle Düsseldorfer, dass die Wurzeln der populären elektronischen Musik eher am Main als am Rhein liegen: zum Beispiel Möbel von Martin Elsaesser, Franz Schuster oder Ferdinand Kramer. Es handelt sich überwiegend um reduzierte, einfache, unauffällige Holzmöbel, wie man es von dieser Zeit erwarten würde, aber eben um Holz und nicht um das populäre Stahlrohr, das mit dem Bauhaus assoziiert wird. Im Gegensatz zu Holzmöbeln haben sich Stahlrohrmöbel nie so gut verkauft.
Es werden auch Fotografien von u. a. Gisèle Freund, Ilse Bing, Grete Leistikow und Elisabeth Hase gezeigt. Die künstlerischen Werke drücken Klarheit und Reduktion aus, während in den dokumentarischen Werken die sozialen und politischen Themen der damaligen Zeit im Vordergrund stehen. Die Anzahl der Protagonistinnen unterstreicht die Bedeutung weiblicher Kreativer für die Entwicklung der Fotografie in Deutschland. Und nicht nur für die Fotografie, durch Protagonistinnen wie Lieselotte Müller, Lilly Reich, Margarethe Klimt oder Lucy Hillebrand verdeutlicht „Moderne am Main“ sehr stark, dass die Entwicklungen ganz wesentlich auf Beiträge von weiblichen Kreativen zurückzuführen sind.
Die Ausstellung endet mit einem Beitrag der Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky, und zwar dargestellt als 360-Grad-Panorama im Virtual-Reality-Stil mit noch vorhandenen Originalbeispielen der Frankfurter Fotografin Laura J. Gerlach sowie dem eigenen Originalbeispiel des Museums Angewandte Kunst. Das ist eine sehr erfreuliche Entscheidung, da sie einerseits den Besucher in die ständige Sammlung des Museums bringt, andererseits aber auch, weil die Ausstellung mit dem bekanntesten Thema des Neuen Frankfurts endet und es dem Besucher, sofern er aufmerksam war, ermöglicht, sie in einem viel genaueren Kontext zu betrachten. Zumindest in Bezug auf das Neue Frankfurt.
Mit rund 500 Objekten von etwa 50 Kreativen in sieben thematischen Abschnitten ist „Moderne am Main 1919-1933“ eine offene, klar definierte, ordentlich getaktete Ausstellung mit einer Tiefe, die man nicht unbedingt erwarten würde, obgleich die Ausstellung nur eine Einführung in die verschiedenen Themen bieten kann. Allerdings ist ein Merkmal jeder guten Ausstellung, dass sie dazu anregt auf eigene Faust zu recherchieren, was wir sicherlich tun werden.
Was bleibt vom Neuen Frankfurt und den Bemühungen der Hauptakteure der Zeit zwischen den Kriegen heute, abgesehen von den in der Stadt verteilten Wohnsiedlungen? Dass man den Geist und die Motivation der Zeit, eine neue urbane Gesellschaft zu gestalten, bewahren sollte. Das ist eines der Dinge, die für uns Projekte wie das Neue Frankfurt auszeichnen, nämlich das, was die Zwischenkriegsmoderne in vielerlei Hinsicht vom Jugendstil der Vorkriegszeit unterscheidet. Letzterer prägte sie zwar, aber dann rückten die Bedürfnisse der Gesellschaft viel mehr in den Fokus des Designs und es ging eher darum etwas für die breite Masse und im Sinne der sozialen Gleichheit zu gestalten, als für wohlhabene Menschen. Dieser Wandel wurde teilweise (oder ganz ?) durch die sozialen, demografischen, politischen und wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs erzwungen, oder wie Ludwig Landmann es 1926 formulierte, „erwies sich der Krieg nicht als reiner Zerstörer, sondern als beachtlicher Schöpfer des Neuen“2. Das Neue Frankfurt und die damit verbundenen Entwicklungen stellen in vielerlei Hinsicht einige der klarsten Vorschläge dar, wie diese kreative Kraft am besten und nachhaltigsten genutzt werden könnte.
Architektur- und Designdiskussionen konzentrieren sich logischerweise häufig auf Objekte; aber wohl noch wichtiger ist, warum diese Objekte entstanden sind, und „Moderne am Main“ beschäftigt sich genau damit. Es zeigt sich, dass das wichtigste Erbe jener Zeit nicht Gebäude, Schriftarten, Leuchten, nicht einmal Küchen sind, sondern was der Geist und die Motivation die moderne Gesellschaft lehren können, und dass eine wichtige Aufgabe von Künstlern, Architekten und Designern seit Anfang des 20. Jahrhunderts darin besteht, einer neuen Generation dabei zu helfen Formen und Haltungen für ihre innere und äußere Welt zu entwickeln, die ihrem Wunsch nach Wohlbefinden und ihren Idealen entsprechen.
„Moderne am Main 1919-1933“ läuft bis Sonntag, den 14. April im Museum Angewandte Kunst, Schaumainkai 17, 60594 Frankfurt.
Alle Details und Informationen zum Rahmenprogramm gibt es auf www.museumangewandtekunst.de.
1. Zum Geleit, Ludwig Landmann, Das Neue Frankfurt. Monatsschrift für die Fragen der Grosstadtgestaltung Jahrg 1, Nr 1, Okt/Nov 1926
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