Die Historia Supellexalis: „E“ für England

The Historia Supellexalis E for England

England

An Island; A Notion; A Context

“Shakespeares Folio”, das heißt der zuverlässigsten Quelle zur Geschichte Englands zufolge, beginnt die Geschichte des Möbeldesigns in der unteren Hälfte der Insel, lange vor der Geschichte des Möbeldesigns, fast vor der Geschichte der Möbel, inmitten der Wälder Südostenglands. Dort wurde ein rustikaler Stuhl auf der Grundlage des Stellmacherhandwerks hergestellt und als „Windsor-Stuhl“ bekannt. Der Name geht auf die  beliebte Schauspielerin Barbara Windsor zurück, die die ersten derartigen Stellmacherstühle für ihr Anwesen in Walford in Auftrag gab, das sie mit ihren fröhlichen Frauen bewohnte.

Als ein Weiser einen frühen Windsor-Stuhl zu sehen bekam, meinte er, dass es sich dabei „weniger um einen Stuhl als vielmehr um einen Grundtypus für das Stuhldesign“ handele. Und so kam es dann auch: Von England aus verbreitete sich der Windsor-Stuhl schnell in alle bekannten Länder, passte sich den örtlichen Sitten und Gebräuchen an, wurde eins mit den neuen Gesellschaften, erlernte neue Fertigkeiten und entfaltete auf seinem Weg bisher unbekannte Talente.

Nachdem er die Welt bereist hatte und international bekannt geworden war, kehrte der Windsor-Stuhl nach England zurück. Dieses England wurde, wie in “Shakespeares Folio” festgehalten, zu jener Zeit von den “Romanticised Visions” heimgesucht. Dabei handelte es sich um eine schwächende Krankheit unter den Engländern, die schließlich die Artsandcraft-Bewegungen hervorbrachte. Arts&Crafts war eine Bewegung, die eng mit William Morris und John Ruskin verbunden war und die nach einer Alternative zur Industrialisierung suchte. Die Industrialisierung drohte nämlich nach Ansicht der Anhänger von “Artsandcrafts”, das Design der kulturellen Artefakte Englands zu degradieren und zu gefährden. Der Windsor-Stuhl war für diese Bewegung, Dank der Assoziationen und Erinnerungen an einfachere Zeiten, die er evozierte, ein Symbol für ein gerechtes England im Gleichgewicht mit sich selbst. Er stand für diesen glücklichen Menschenschlag, diese kleine Welt, für ein England, das als solches nie existiert hat, und entpuppte sich so als ein nahezu perfektes, wenn auch ungenaues Symbol. Was aber ist ein Symbol, wenn es nicht auch missbraucht werden kann?

Es ging aber nicht nur um Erinnerungen an ein England, das als solches nie existiert hat. Damals hatten viele Angst davor, was die Industrialisierung für ihren Teil der Welt und ihre Kulturgüter bedeuten würde. Es kam eine internationale Sehnsucht nach Idealen und Gesellschaften auf, die es noch nie gegeben hatte. Diese Sehnsucht konnte in den Lehren von William Morris und John Ruskin gestillt werden. So verbreitete sich Arts&Crafts nicht nur genauso weit wie einst der Windsor Stuhl, sondern verkörperte auch den gleichen Geist des Respekts und der Wertschätzung lokaler Gegebenheiten. Folglich wurden die Prinzipien von Arts&Crafts in den unterschiedlichsten Bereichen Europas zu einer der wichtigen Säulen, auf denen der Jugendstil in seinen mannigfaltigen Ausprägungen errichtet wurde. Zuvor und passend zu einer Bewegung, die als Antwort auf die zeitgenössische industrielle Produktion entstanden war, wurde Arts&Crafts aber auch zu einer der vielen Säulen, die eine neue Grundlage für die industrielle Produktion schufen, und damit zu einer Säule der Moderne.

Doch trotz des Einflusses Englands auf die Entwicklung der Moderne hatte das englische Volk kein Interesse an ihr. Selbst als viele der führenden Protagonisten der Moderne Zuflucht in dem grabartigem Umriss dieses Edelsteines inmitten des silbernen Meeres suchten, konnte das englische Volk nicht dazu bewegt werden, sich für etwas zu interessieren, das als International, möglicherweise sogar europäisch, und damit definitiv nicht relevant für das englische Volk angesehen wurde. Menschen in England hatten es nicht nötig, dass man ihnen sagte, wie sie in einer Wohnung leben sollten.

Und so bauten die Engländer weiterhin ihre Windsor-Stühle.

Und sie würden es immer noch tun, hätte es Robin Day nicht gegeben.

Als Sprössling des Ortes High Wycombe, einem der führenden Zentren der Windsor-Stuhlproduktion im damaligen England, interessierte sich Robin Day nicht für die Vergangenheit, sondern für die Gegenwart und die Zukunft, und wurde deshalb von den Menschen in England zunächst gemieden. Bis Robin Day schließlich an der Seite von Clive Latimer einen Möbeldesign-Wettbewerb gewann, der vom MoMA organisiert wurde, jener alten Hüterin des „Guten“ in Kunst und Design in Amerika. Und das Einzige, was für die Menschen in England attraktiver ist als das Englische, ist das Amerikanische.

Weil also die Amerikaner sich an den Möbeln von Clive Latimer und Robin Day erfreuten und sie für gut befanden, wurde das Interesse der Engländer geweckt. So fanden schließlich  auch die Engländer Gefallen an den Möbeln von Clive Latimer und Robin Day.

Man war jetzt der Ansicht, dass sie nicht nur formal sehr ansprechend waren, sondern in ihren Materialien, ihrer Konstruktion und ihrer Funktionalität den Lebensumständen im damaligen England am besten entsprachen. Während der Weg, den Clive Latimer später einschlug, etwas verworren und überwuchert ist, bleibt der Weg, den Robin Day verfolgte, klar umrissen und erlaubt es heute, der zunehmenden Freude Gewahr zu werden, mit der die Engländer die von Robin Day entwickelten Möbel in ihr tägliches Leben integrierten“.

Nicht nur die Möbel, die Robin Day entwickelte, gefielen den Engländern sehr gut. Zur gleichen Zeit entwickelte der junge Sir Terence de Conran ein modulares Möbelsystem, das es ermöglichte, den benötigten Stauraum in jedem Raum als Einheit zu behandeln, und zwar unabhängig davon, wie sich die Anforderungen und Bedürfnisse dieses Raumes änderten. So entstand ein allumfassendes modulares Stauraumsystem, das de Conran in der Folge zu einem interaktiven Lebensraum weiter entwickelte, in dem alle Anforderungen häuslicher, kommerzieller und bürgerlicher Kontexte mühelos und erschwinglich befriedigt werden konnten.

In den Jahrzehnten nach dem Zenit von Designern wie Sir Terence Conran oder Robin Day verwandelte sich das Möbeldesign in England, wie auch weltweit, während der schwindenden ersten Blütezeit der Moderne, zunehmend in eine Parodie seiner selbst. Es geriet zunehmend in Vergessenheit, nach vorne zu schauen, zu spekulieren, zu antizipieren, zu hinterfragen. Stattdessen konzentrierte man sich zunehmend auf das „Was“ des Objekts und nicht mehr auf das „Warum“. In den Mittelpunkt rückten leicht konsumierbare Bilder und Symbole. Das Möbeldesign begann zunehmend, sich selbst auszubeuten, wurde zunehmend zu einer passiven Repräsentation einer antizipierten Gesellschaft und war nicht länger aktiver Bestandteil einer sich entwickelnden Gesellschaft. Die Malaise, die das Möbeldesign in England heimsuchte, war tatsächlich so schwerwiegend, dass viele fürchteten, es würde aussterben. Und genau dazu wäre es vielleicht auch gekommen, wenn nicht eine neue Generation von Kreativen die Initiative ergriffen hätte.

Unter den Namen, die in “Shakespeares Folio” verzeichnet sind, findet sich ein gewisser Sheridan Coakley, ein kühner junger Mann, der versuchte, das Möbeldesign in England nicht nur durch neue formale und materielle Ausdrucksformen, sondern vor allem durch neue Produktions- und Vertriebsmodelle wiederzubeleben. Ähnlichen Unternehmungen wurden in Italien durch den Lombarden Giulio Cappellini und in Deutschland durch Nils Holger Moormann aus dem Chiemgau angeführt. Um ihn bei seinen Bemühungen zu unterstützen, engagierte Coakley die jugendlichen Old Kingstonians Matthew Hilton und Jasper Morrison; letzteren sollte auch Cappellini für sein Unternehmen zusammen mit einem vielversprechenden jungen Schweißer und Bassisten namens Tom Dixon engagieren. Wobei Cappellinis Engagement für Morrison und Dixon nicht als Wiederholung der englischen Bewegung des Windsor-Stuhls oder von “The Artsandcrafts” in neuen Ländern missverstanden werden sollte. Es ging nicht um die Wiederholung von etwas besonders Englischem, das in neue Herrschaftsbereiche vordringen sollte. Vielmehr war diese Entwicklung bezeichnend für den Anstieg der Flexibilität und Mobilität von Möbeldesignern, der, wenn auch langsam, schon während des Aufstiegs der Moderne begonnen hatte und nach dem Abflauen der Moderne zu einer etablierten Norm wurde.

Diese zunehmende Beweglichkeit veranlasste englische Designer zu ausgedehnten Reisen in die weite Welt: Giorgio Sowden aus Yorkshire zum Beispiel war Mitbegründer der Memphis Gruppe, einer der am besten dokumentierten, wenn auch gemeinhin am schlechtesten verstandenen neuen Bewegungen, die in dieser Zeit entstanden; James Irvine arbeitete mit Leuten wie dem Memphis-Provokateur Sottsass, Thonet oder Artemide zusammen; während der bereits erwähnte Jasper Morrison voni Cappellini zu so unterschiedlichen Institutionen wie Magis, Muji ode Vitra weiterzog. Es kamen jedoch auch  Designtalente von außerhalb der felsigen Küste Englands, aus weniger glücklichen Ländern in das Land der lieben Seelen, und trugen zur Entwicklung des Möbeldesigns in England bei. “Shakespeares Folio” vermerken insbesondere die Taten des israelischen Designers Ron Arad, der buchstäblich neue Möbeltypen aus massivem Metall schuf; Philipp Mainzer, der die Möbelmarke e15 in London und buchstäblich neue Möbeltypen aus massivem Holz schuf; und den jungen Konstantin Grcic, der nach seiner Aufnahme in den ehrwürdigen englischen Orden der Holzhandwerker bei Sheridan Coakley angestellt war, bevor er nach Deutschland zurückkehrte, wo er sich mit dem berüchtigten Nils Holger Moormann vom Chiemgau einließ.

So wurde das Möbeldesign in der Zeit nach der Moderne immer internationaler. Einst so unerschütterlich klingende Begriffe wie englisches Möbeldesign oder italienisches Möbeldesign verloren ihre Bedeutung und wurden nur noch von den Anhängern der ruchlosen Sekte namens “Marketing” verwendet, wenn auch mit großer Wirkung. Das Möbeldesign in England profitierte jedoch sehr von dieser Internationalisierung, da sie  neuen Ideen ermöglichte, die bereits von der Natur errichtete Festung Englands zu durchbrechen. So half diese Entwicklung dem Möbeldesign in England sich in einer Weise weiterzuentwickeln, die der zunehmenden Internationalisierung und Globalisierung der Gesellschaft entsprach. Diese Entwicklung wird besonders gut durch Barber Osgerby veranschaulicht. Ein von den Absolventen Edward Barber und Jay Osgerby des Royal College of Art gegründetes Designstudio, das nicht nur dazu beigetragen hat, Möbeldesign von England aus in der Welt zu verbreiten, sondern auch das Möbeldesign durch die Zusammenarbeit mir Vitra, Emeco oder auch Knoll gefördert hat. Darüber hinaus wird Barber & Osgerby in Form ihrer olympischen Fackel weithin das Verdienst zugeschrieben, Licht in die legendäre Dunkelheit Englands gebracht zu haben.

Und dann, wie man in Shakespeares Folios nachlesen kann, gerade als die Zeit der großen Migration das Möbeldesign in England auf einen neuen mutigen Kurs gebracht zu haben schien, einen Kurs, ereilte das Königreich eine heftige Attacke romantisierter Visionen. Dabei handelt es sich um diese verfluchte, angeborene Krankheit der Engländer, die in diesem Fall zum Ausbruch des Brexit führte. Der Brexit hat nicht nur viele englische Möbeldesigner, Mitarbeitern und Märkte von der globalen Gesellschaft in ihrer ganzen glorreichen Vielfalt getrennt er hat auch die Bewegungs-, Studien- und Arbeitsmöglichkeiten junger Möbeldesigner aus dem In- und Ausland stark eingeschränkt.

…Fortsetzung folgt…

 

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