Architektur wird oft als eine Disziplin der Geometrie verstanden – als ein Spiel der Formen, als das Zusammenspiel unterschiedlichster geometrischer Strukturen auf verschiedenen Maßstabsebenen, mit dem Ziel, ein harmonisches Ganzes zu schaffen. Eine Auffassung, die sich wohl bis zu den Anfängen der Architektur zurückverfolgen lässt.
Doch stimmt das wirklich?
Mit Hilfe des Werks von Frei Otto und Kengo Kuma laden die Kunstsammlungen Chemnitz dazu ein, Architektur jenseits der Geometrie zu entdecken…
Konzipiert anlässlich des 100. Geburtstags von Frei Otto – einem Architekten, der wie kaum ein anderer mit der Architektur der westdeutschen Nachkriegszeit verbunden ist und doch 1925 in Chemnitz geboren wurde – stellt die Ausstellung Beyond Geometry. Frei Otto x Kengo Kuma zwei außergewöhnliche Positionen in den Mittelpunkt. Wäre der Lauf der Geschichte ein anderer gewesen, hätte Frei Ottos Name womöglich eng mit der Architektur Ostdeutschlands verknüpft sein können. Zugleich ist die Ausstellung Teil des Kulturprogramms rund um die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025.
Wie der Titel andeutet, treten in Beyond Geometry die Arbeiten Frei Ottos in einen direkten Dialog mit denen des japanischen Architekten Kengo Kuma, geboren 1954 in Yokohama. Nach dem Studium an der Universität Tokio und einer Forschungszeit an der Columbia University in New York gründete Kuma in Tokio sein eigenes Büro, von dem aus er bis heute weltweit Projekte realisiert.
Im Zentrum dieses Dialogs steht zunächst die Rolle der Natur – sowohl im Werk Frei Ottos als auch bei Kengo Kuma. Natur erscheint dabei nicht nur als makro- oder mikroskopisches Phänomen, sondern auch als sinnlich erfahrbares, materielles wie immaterielles Prinzip. Zur Einführung dienen zwei Olympiastadien: Kengo Kumas Japan National Stadium in Tokio, 2019 fertiggestellt für die Olympischen Sommerspiele 2020, und Frei Ottos legendäre Dachkonstruktion für das Münchner Olympiastadion von 1972, entworfen in Zusammenarbeit mit Behnisch & Partner – ein Dach, das häufig fälschlich mit dem Stadion selbst gleichgesetzt wird.
Diese beiden Bauwerke, beide für Olympische Spiele geschaffen, verorten Otto und Kuma nicht nur in den architektonischen Diskursen Westdeutschlands und Japans. Sie machen auch deutlich, dass es in ihrem Werk weniger um das Errichten von Objekten im Raum geht, sondern vielmehr um das Definieren von Raum. Der Raum bleibt dabei weitgehend ungestört von der Konstruktion – er erhält vielmehr eine neue Funktion, eine neue Bedeutung, eine neue Lebendigkeit. Bei Kengo Kuma zeigt sich dies besonders anschaulich in Projekten wie dem Coeda House oder dem Yusuhara Wooden Bridge Museum, die ebenfalls im ersten Ausstellungsraum zu sehen sind.
Im weiteren Verlauf entwickelt Beyond Geometry diesen Gedanken anhand von vier zentralen Themen weiter: Weichheit, Transparenz, Nachhaltigkeit und Leichtigkeit. Letztere wird in Kumas Projekt Mêmu Meadows aus dem Jahr 2011 besonders eindrucksvoll ins Extrem geführt. Das auf Hokkaidō realisierte Gebäude besitzt textile Außenwände, die tagsüber weiß und flach erscheinen, bei Nacht jedoch transluzent leuchten – wie ein Lampenschirm in der Landschaft.
In ihrer Wirkung erinnert diese Architektur an Kindheitserinnerungen des Künstlers Isamu Noguchi an die japanischen Shoji-Papierwände. Noguchi schrieb: „Wenn man ein Fenster als eine Wand aus Licht versteht, kann man die herkömmliche Vorstellung vom Fenster aufgeben – und es entsteht eine Wand, die zugleich Lichtquelle ist.“ Eine solche „Wand, die zugleich Lichtquelle ist“, eröffnet nicht nur neue Perspektiven auf das Verhältnis von Bauwerk und Natur, sondern führt auch Noguchis Gedanken in den Diskurs ein – und erweitert die Auseinandersetzung über Frei Otto und Kengo Kuma hinaus.
Diese Auseinandersetzung ermöglicht nicht nur einen gut zugänglichen Vergleich der Arbeitsweisen von Frei Otto und Kengo Kuma, sondern bietet zugleich – wenn auch zwangsläufig nur in geraffter Form – eine aufschlussreiche Einführung in das Werk der beiden Architekten. Dabei werden exemplarisch Projekte wie Kengo Kumas Tao, ein taoistischer Tempel südlich von Taipeh, oder Ceramic Cloud, ein Denkmal bzw. eine Installation im italienischen Casalgrande, vorgestellt. Aufseiten Frei Ottos wird unter anderem der Entwurf für eine Stadt in der Arktis aus dem Jahr 1971 präsentiert. Dieses visionäre Projekt unter einer Kuppel erinnert stark an die zahlreichen Kuppelkonstruktionen von Richard „Bucky“ Buckminster Fuller. Somit wird auch dieser Pionier in den Diskurs eingeführt und die Auseinandersetzung über Otto und Kuma hinaus erweitert.
An besagtem Arktis-Stadt-Projekt von 1971 war übrigens auch der japanische Architekt Kenzō Tange beteiligt, der eine prägende Figur für den jungen Kengo Kuma war. Damit entsteht eine weitere Verbindung zwischen Otto und Kuma über die vier Themen der Ausstellung hinaus und zugleich ein Anlass, auch Tange in die Diskussion einzubeziehen.
Gleichzeitig erlaubt die Ausstellung eine kompakte, aber informative Einführung in die Entwicklung von Frei Ottos Denkweise und Gestaltungsansätzen im Verlauf seiner Biografie. Dazu zählt etwa seine Erfahrung als Lagerarchitekt in einem französischen Kriegsgefangenenlager während des Zweiten Weltkriegs – ein Aspekt, der wiederum an Isamu Noguchi erinnert, der zur selben Zeit im amerikanischen Internierungslager Poston inhaftiert war. Auch Ottos konsequente Ausrichtung seiner Bauten nach dem Sonnenlauf und seine Überlegungen zur Bewegung der Sonne im Zusammenspiel mit der Nutzung und Orientierung eines Gebäudes lassen Parallelen erkennen, etwa zu Eileen Grays akribischen Sonnenstudien in Roquebrune-Cap-Martin bei der Planung ihrer Villa E.1027, und eröffnen somit neue Perspektiven, die auch Eileen Gray in den Diskurs einbeziehen.
Nicht zuletzt widmete sich Frei Otto über Jahrzehnte der Erforschung von Seifenblasen als natürliche Modelle für extrem leichte Strukturen mit minimalem
Materialeinsatz.Apropos: Leichtbau mit minimalem Materialaufwand …
Wie die in Beyond Geometry gezeigten Fotografien und Modelle von Frei Ottos Arbeiten deutlich machen, beruhen viele seiner scheinbar schwebenden, minimalistischen Konstruktionen in Wirklichkeit auf einem enormen Einsatz von Stahlseilen, Metallverbindern und Betonankern. Das wurde uns zuletzt im Rahmen der Munich Creative Business Week 2025 erneut bewusst, insbesondere beim Blick auf das Dach des Münchner Olympiastadions von 1972 und die weiteren Arenaüberdachungen, die Frei Otto für die Olympischen Spiele entworfen hat. Diese Werke verlieren nie an Faszination und inspirieren uns immer wieder. Doch so sehr sie Leichtigkeit und Reduktion vermitteln: Ihre bauliche Umsetzung war alles andere als leicht oder minimal – weder in konstruktiver noch in finanzieller Hinsicht. Damals nicht. Heute auch nicht.
Dennoch – oder gerade deshalb – gehört diese Realität unbedingt in jede Auseinandersetzung mit Frei Ottos Werk. Zugleich unterstreicht die Ausstellung Beyond Geometry den tatsächlich wegweisenden Charakter vieler seiner Projekte. Denn obwohl die Themen Transparenz, Schweben und Leichtigkeit in der Architektur nicht neu waren, hat Frei Otto die Grenzen des Machbaren verschoben, indem er völlig neue Denkansätze und unkonventionelle Zugänge zu gestalterischen und technischen Fragen entwickelt hat. Er tat dies mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, wobei er sich der materiellen, technologischen und prozessualen Begrenzungen seiner Zeit bewusst war. Indem er unter diesen Bedingungen neue Wege erschloss, ermöglichte er es späteren Generationen, auf seiner Arbeit aufzubauen – mit neuen Materialien, Technologien und Werkzeugen, die ihm nicht zur Verfügung standen. Sie konnten seine Ansätze weiterentwickeln und in eigene, oft elegantere Lösungen überführen, die an ihre jeweiligen Kontexte und Motive orientiert sind. Zu diesen Weiterführenden gehört auch Kengo Kuma.
Deshalb steht im Ausstellungstitel auch ein x – und kein ≡.
Denn Frei Otto und Kengo Kuma sind zwei sehr unterschiedliche Architekten mit eigenständigen Herangehensweisen und Haltungen. Doch wie die Ausstellung Beyond Geometry zeigt, begegnen sie sich punktuell in einem inspirierenden und aufschlussreichen Dialog.
Diese Begegnung ist in einer entsprechend leichten und reduzierten Ausstellungsarchitektur inszeniert, in der Modelle in unterschiedlichen Maßstäben – teils auch im Maßstab 1:1 – präsentiert werden. Dazu gehören das dreiachsig gefaltete Material, mit dem Kengo Kuma die Wände des Shang Xia Stores in Shanghai gestaltete, sowie das „Garn“ aus recycelten LAN-Kabeln, mit dem er den Innenraum des Tetchan Cafés in Tokio überzog und durchbrach. Jedem Projekt ist ein Foto zugeordnet. Die Ausstellungstexte sind zweisprachig (Deutsch/Englisch). Ein Lesebereich sowie eine Diashow am Ende der Ausstellung laden zur Vertiefung der Themen ein. Dieser Bereich ist mit Arbeiten von Studierenden und Mitarbeitenden der Fakultät für Angewandte Kunst Schneeberg möbliert, darunter Josef Ehnerts Loungesessel H2L, den wir erstmals auf der Grassimesse Leipzig 2023 gesehen haben, sowie der Lux-Stuhl von Prof. Jacob Strobel, der 2007 im Rahmen seines Diplomprojekts in Schneeberg entstand. Auch damit führt Beyond Geometry über die reine Architektur hinaus.
Die Ausstellung öffnet den Diskurs weiter, etwa mit Frei Ottos Entwürfen für Luftschiffe – gewissermaßen eine andere Form von Seifenblasenprojekten –, mit denen er einen spezifischen funktionalen Raumtypus zu definieren versuchte. Die organischen Formen dieser Luftschiffe erinnern stark an die Gestaltungen von Luigi Colani, einem Designer, der wie Frei Otto ein tiefes Interesse an Natur, Leichtigkeit und Nachhaltigkeit hatte. So werden auch Colanis Ideen Teil des Dialogs – glücklicherweise nur gedanklich, denn persönlich wäre das schwer auszuhalten gewesen.
Ein weiteres Beispiel für das Überschreiten klassischer Architekturgrenzen sind die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten der Dresdner Künstlerin Stephanie Lüning: temporäre Strukturen aus Wasser, Sauerstoff und Spülmittel. Es handelt sich um eine andere Form der Forschung mit Seifenblasen: flüchtige Gebilde, die nicht tragen, dafür aber zischen, knistern und sich poetisch im Raum wiegen. Mit ihrer Arbeit bringt Lüning eine ganz eigene Perspektive in die Ausstellung ein und führt den Diskurs über Frei Otto und Kengo Kuma hinaus weiter.
In Beyond Geometry ist zeitgenössische Kunst – wenn auch aus einer anderen Gegenwart – durch Werke der Zero-Gruppe vertreten, insbesondere durch ihre drei prägendsten Mitglieder Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker. Letzterer ist mit seinem Nagelobjekt Weiße Sonne von 1964 vertreten. Das Werk aus der Sammlung der Kunstsammlungen Chemnitz wirkt in der Ausstellung wie eine albinohafte Sonnenblume und ermöglicht einen differenzierten Blick auf das oben angesprochene Spannungsverhältnis zwischen der visuellen Leichtigkeit und dem strukturellen Minimalismus von Frei Ottos Architektur einerseits und dem tatsächlichen Materialeinsatz und der konstruktiven Komplexität andererseits. Dabei erfährt man auch, dass Frei Otto – wie viele seiner architektonischen Zeitgenossen – mit den Künstlern der Zero-Gruppe in Kontakt stand. Nicht zuletzt wegen der Gemeinsamkeiten ihrer Arbeiten. Sie reagierten auf ihre jeweilige Zeit, auf jene Gegenwart, die sie in ihren Werken reflektierten und gestalteten. So bringt die Ausstellung auch Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker ins Gespräch und führt sie über Frei Otto und Kengo Kuma hinaus.
Die Ausstellung Beyond Geometry ermöglicht somit nicht nur eine Annäherung an Frei Otto und Kengo Kuma, sondern erschließt auch neue Perspektiven auf Architektur als Diskursraum für zeitgenössische soziale, technologische, materielle, ökonomische, politische und ökologische Fragestellungen. Architektur erscheint hier als grundsätzlich formlos – und hilft somit, über die physische Geometrie hinauszudenken, die Architektur gemeinhin definiert. Sie öffnet den Blick über die formale Disziplin der Architektur hinaus und über die physische Geometrie konventioneller architekturtheoretischer Diskurse und architekturhistorischer Erzählungen. So lädt sie dazu ein, die Rolle, den Sinn und die Funktion von Architektur neu zu befragen: in Bezug auf das Verhältnis von gebauter und natürlicher Umwelt, auf die sich notwendigerweise ergebenden Schnittstellen – und auf das sich stets wandelnde Verhältnis von Architektur und Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die nie eine strenge Geometrie hatte – und auch niemals eine haben sollte.
Beyond Geometry. Frei Otto x Kengo Kuma ist noch bis Sonntag, den 29. Juni, in den Kunstsammlungen Chemnitz, Theaterplatz 1, 09111 Chemnitz, zu sehen.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.kunstsammlungen-chemnitz.de