Gibt man in eine bekannte Suchmaschine „Stuttgart Architektur“ ein, stößt man auf eine unglaubliche Menge an Ergebnissen, die mit Stuttgart 21, dem Projekt zur Neugestaltung des Stuttgarter Hauptbahnhofs, zu tun haben. Ein Umstand, der unserer Meinung nach der Stadt und ihrer Architektur Unrecht tut. Stuttgarts Architekturtradition ist nämlich reicher als die viele anderer Städte in Europa. Und ja, wir sprechen hier über moderne Architektur des 20. Jahrhunderts…
Das berühmteste architektonische Denkmal in Stuttgart ist ohne Frage die Weißenhofsiedlung. Unter Aufsicht von Ludwig Mies van der Rohe entstand die Weißenhofsiedlung 1927 als Beispiel dafür, wie Architektur und Inneneinrichtung auf die soziale und ökonomische Situation des Nachkriegseuropa reagieren können bzw. sollen.
Trotz größter Anstrengungen der Royal Air Force, der NSDAP und dem Desinteresse der demokratisch gewählten Regierungen in Stuttgart, haben viele der Bauten bis heute überlebt. So auch jene von Le Corbusier, J. J. P. Oud, Mart Stam und, besonders beeindruckend für uns, Hans Scharoun.
Einen Steinwurf von der Weißenhofsiedlung entfernt befindet sich ein genauso wichtiges, diametrisch positioniertes Architekturprojekt: die Kochenhofsiedlung.
Es wäre zu einfach sich der Bauhaus-Euphorie zu verschreiben und zu glauben, nur Gropius, Mies van der Rohe & Co. hätten die Architekturgeschichte des Zwsichenkriegsdeutschlands geschrieben. Haben sie nicht!
Wir haben hier oft von der Spaltung im Deutschen Werkbund 1914 geschrieben. Auf der roten Seite dabei: Henry van der Velde, Walter Gropius und andere Vertreter der Europäischen Moderne, auf der blauen Seite: Hermann Muthesius und die Traditionalisten, einschließlich zahlreicher Mitglieder der Gruppierung, die als Stuttgarter Schule bekannt werden sollte.
Und es war die um Paul Schmitthenner und Paul Bonatz gegründete Stuttgarter Schule, die erfolgreich argumentierte, dass wenn die Modernisten Raum für ihre neumodischen Fantasien bekommen, auch die Tradition irgendwo präsentiert werden sollte.
Obwohl Paul Schmitthenner schon 1927 mit der Planung seines Projekts begonnen hatte, konnte es nicht vor der Machtergreifung der NSDAP realisiert werden und wurde erst 1933 der Öffentlichkeit unter dem Titel „Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung“ präsentiert. Eine Folge von Ereignissen, die sich – nicht ganz unverständlich – bis heute negativ auf das Projekt auswirkt.
Im Wesentlichen ein Gartengrundstück in bester Tradition der Arts and Crafts Bewegung, ist die Kochenhofsiedlung eine viel kleinere Sache als ihr naher, doch viel berühmterer Nachbar – wenn auch nicht weniger faszinierend oder sehenswert.
Bequem zwischen den beiden Bewegungen der Stadt sitzend, oder besser gesagt, zwischen ihnen grätschend, findet man einen anderen berühmten Sohn Stuttgarts, Egon Eiermann. Der berühmteste Sohn in Sachen Architektur sogar – auch wenn er dort weder geboren wurde noch jemals in Stuttgart lebte. Doch nach seinem vom Krieg motivierten Umzug von Berlin nach Baden-Württemberg realisierte Egon Eiermann zahlreiche wichtige Projekte in und um Stuttgart. Projekte, die nicht nur in vielerlei Hinsicht noch immer das Stadtbild und die Umgebung definieren, sondern die vor allem wichtige Meilensteine in Eiermanns Karriere darstellen und die Elemente enthalten, die Eiermann in vielen seiner späteren Projekte überarbeitet und weiterentwickelt hat. Die nennenswertesten sind dabei die Matthäuskirche Pforzheim, das Horten Kaufhaus in Stuttgarts Innenstadt und seine Bürogebäude für IBM Deutschland in Vaihingen und Böblingen.
Neben solchen „historischen“ Arbeiten wurden in Stuttgart in den letzten Jahren eine ganze Reihe neuer kultureller Gebäude gebaut, wie das Porsche Museum, das Mercedes Benz Museum, die neue Stadtbibliothek oder das Kunstmuseum Stuttgart, und es kann heute eine Sammlung von Gebäuden vieler wichtiger, einflussreicher und progressiver Architekten des 20. Jahrhunderts aufweisen.
Und wir haben nicht mal ansatzweise Stuttgart 21 in unsere Überlegung einbezogen. Aber das dürfte wohl auch besser so sein.
Neben dem Reichtum an architektonischen Werken ist Stuttgart außerdem Zuhause für mehr Architekten als jede andere Stadt in Deutschland. Wo man in jeder anderen deutschen Stadt keine 200 Meter laufen kann, ohne an einer Arztpraxis vorbeizukommen, ist es in Stuttgart so mit den Architekturbüros. Die sind überall!
Wegen alledem und dem Vorwurf Jehs+Laubs, „Eine unglaubliche Menge Kreativität stammt aus Stuttgart, aber das weiß man nicht unbedingt, weil niemand darüber spricht.“, haben wir uns entschieden, über Stuttgarter Architektur zu sprechen und werden in den kommenden Wochen eine Reihe von Interviews mit Vertretern der Stuttgarter Architektur-Community bringen.
Es wird kein vollständiger Überblick über die zeitgenössische Architekturszene in Stuttgart sein, aber wir hoffen, es wird wenigstens unterhalten und informieren.
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