„Der Entwurf entsteht nicht durch eine tolle Überlegung, vielmehr zufällig. Entwurfsfindung durch das Zeichnen.“1 So kommentierte der deutsche Architekt und Designer Sergius Ruegenberg den Entwurf des sogenannten Barcelona Sessels; einem Lounge Sessel, der offiziell bei der Weltausstellung in Barcelona am 19. Mai 1929 vorgestellt wurde.
Barcelona Sessel? Sergius Ruegenberg?
Ja! Barcelona Sessel und Sergius Ruegenberg.
1903 in St. Petersburg geboren, wurde Sergius Ruegenberg in Berlin als staatlich geprüfter Hochbautechniker ausgebildet, bevor er im Architekturbüro Bruno Pauls eine Architekturausbildung erhielt. Von 1925 bis 1934 arbeitete Sergius Ruegenberg dann im Büro von Ludwig Mies van der Rohe, wo er ihm bei verschiedenen großen Projekten assistierte, darunter die Villa Tugendhat in Brno und der deutsche Pavillon für die Weltausstellung 1929 in Barcelona.
Obwohl anfangs die Möbel keine übergeordnete Rolle bei der Planung des Pavillons spielten, rief ein Besuch Königs Alfonso XIII und seiner Gemahlin Königin Victoria im deutschen Pavillon während der Ausstellungseröffnung die Ansicht in Mies van der Rohe hervor, dass repräsentative Lounge Sessel für die königliche Familie unentbehrlich wären. Er selbst hatte bisher nur einen Hocker mit einem x-förmigen Gestell aus gebogenem Stahl entwickelt und Sergius Ruegenbergs Job war es nun, einen passenden Lounge Chair zu dem Hocker zu entwerfen.2
Unsicher, wo er anfangen sollte oder wie er am besten einen anatomisch optimierten Lounge Chair formen sollte, führte es Sergius Ruegenberg an das Ufer des Berliner Wannensees, wo er im Sand probierte, wie es sich am besten sitzen lässt. In den Abdruck, den er im Sand hinterließ, setzte er biegsames Stahldraht, woraus sich schließlich die Basis seiner Zeichnungen ergab.3 Das ist eine dieser Geschichten über Designprozesse, die wunderbar veranschaulichen, wie viel Arbeit, Innovation und Querdenken in der Entstehung simpler, reduzierter Designs steckt.
Ruegenberg entwickelte nicht nur verschiedene Formen für den Sitz, sondern adaptierte und veränderte auch die Form, Tiefe und Länge von Mies van der Rohes ursprünglichem X-Gestell, das er so besser auf die Form des Sessels abstimmen wollte. Laut Ruegenberg bat Mies van der Rohe ihn, seine Zeichnungen auf Transparentpapier anzufertigen, sodass er die verschiedenen Versionen leichter miteinander vergleichen konnte4, bevor er sich endgültig für eine entscheiden wollte. Oder wie Ruegenberg es sagte: „Ich mußte zeichnen und Mies hat ausgewählt.“5
Eine Aussage, die uns natürlich nicht nur sehr an den Produktentwicklungsprozess bei Hermann Miller unter George Nelsons Regiment erinnert, sondern auch an die Tatsache, dass sehr oft verschiedene Menschen an einem Möbelstück arbeiten, das schließlich einem einzigen vermarktbaren Designer zugeschrieben wird… Und was uns schließlich wieder daran erinnert, dass es sehr nett wäre, wenn alle an so einem Prozess Beteiligten namentlich genannt werden würden.
Auf die Frage von Martin Gärtner, warum er so viel Arbeit in ein Objekt gesteckt hat, wo es doch nur um einen repräsentativen Stuhl, in dem die Königsfamilie kurz sitzen könne, ging, antwortete Sergius Ruegenberg unmissverständlich, dass Mies van der Rohe einen Sessel entwerfen wollte6, die Ausstellung und der Pavillon boten lediglich die Möglichkeit.
Doch obwohl der Sessel sozusagen eine Auftragsarbeit war, war er für Mies van der Rohe ein Objekt für seine Architekturprojekte und weniger ein kommerzielles Produkt. Die ersten Versionen des Sessels wurden bei Bedarf bei der Metallfabrik Joseph Müller in Berlin bestellt und obwohl er 1931 auch für eine kurze Zeit als MR 90 durch die Bamberg Metallwerkstätten, Berlin, in Serie produziert wurde, bedurfte es in den 1950er Jahren bekanntlich einige Überzeugungsarbeit von Florence Knoll, bevor Mies van der Rohe einwilligte, den Barcelona Chair von Knoll International in die Serienproduktion aufnehmen zu lassen.
So ist, obwohl der Großteil der in den 1930er Jahren produzierten MR 90 Sessel die verheerenden Verwüstungen des Krieges nicht überlebte, eine der herausstechendsten Arbeiten der Weltausstellung von 1929 und eines der luxuriösesten und prächtigsten Objekte des modernen europäischen Möbeldesigns zum Glück erhalten geblieben. Ohne Florence Knolls Beharrlichkeitals wären nur ein paar Zeichnungen auf Transparentpapier und Sergius Ruegenbergs Abdruck irgendwo am Strandbad Wannensee von Ludwig Mies van der Rohes Sessel übrig geblieben…
1. Martin Gärtner, „Sergius Ruegenberg : eine Monographie; Bauten und Entwürfe zur Berliner Architektur seit 1925“, Mann Verlag Berlin, 1990
2. ebd.
3. Eva-Maria Amberger, „Sergius Ruegenberg: Architekt zwischen Mies van der Rohe und Hans Scharoun“, Berlinische Galerie, 2000
4. Martin Gärtner, „Sergius Ruegenberg: eine Monographie; Bauten und Entwürfe zur Berliner Architektur seit 1925“, Mann Verlag Berlin, 1990
5. Eva-Maria Amberger, „Sergius Ruegenberg: Architekt zwischen Mies van der Rohe und Hans Scharoun“, Berlinische Galerie, 2000
6. Martin Gärtner, „Sergius Ruegenberg: eine Monographie; Bauten und Entwürfe zur Berliner Architektur seit 1925“, Mann Verlag Berlin, 1990
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