Orgatec 2012: Ein Interview mit Vitra Chief Design Officer Eckart Maise

Im Februar 1991 schlug das Urgestein des italienischen Designs Ettore Sottsass dem Vitra CEO Rolf Fehlbaum ein gemeinsames Projekt vor. Es sollte um Leben und Arbeiten im Büro gehen. Das Ziel war dabei nicht Büromöbel zu entwerfen, sondern den Mikrokosmos „Büro“ in all seinen Facetten zu erkunden.

Rolf Fehlbaum stimmte bereitwillig zu und zusammen mit Michele de Lucchi, Andrea Branzi und James Irvine machten sich Sottsass und Vitra auf eine Erkundungstour, sie forschten, überlegten und entwarfen.

Das Ergebnis wurde der Öffentlichkeit in Form des „Citizen Offices“ präsentiert: eine Ausstellung, die im April 1993 im Vitra Design Museum öffnete, und ein begleitendes Buch, das die unternommene Reise und gewonnenen Erkenntnisse erklärt. Aber viel mehr war das Citizen Office eine Vision davon, wie unsere zukünftige Bürowelt aussehen könnte, sollte – oder würde? Eine Vision, die in vielerlei Hinsicht als Grundgerüst für Vitras Büromöbelphilosophie der letzten zwei Jahrzehnte fungierte.

1989 ging Vitra mit „Metropol“ von Mario Bellini bereits die ersten, zaghaften Schritte in Richtung eines Bürosystems. In den Folgejahren begannen dann die Langzeitkooperationen mit Designern wie Antonio Citterio oder Werner Aisslinger, während in den letzten Jahren die Idee des Citizen Offices durch Designer wie Ronan und Erwan Bouroullec oder Hella Jongerius bereichert wurde. Von Designern also, die ein Wohn-Gefühl in die technikdominierte Welt der Büromöbel brachten.

Auf der Orgatec 2012 haben wir mit Chief Design Officer Eckart Maise über das Vermächtnis des Citizen Offices und die Entwicklung neuer Bürosysteme gesprochen … und darüber, wie man zu Designern „Nein“ sagt…

(smow)blog: Nimmt man das Citizen Office Projekt als den Ausgangspunkt für Vitras Arbeit mit Büromöbeln, ist das, was Sottsass, de Lucchi, Brandi und die anderen damals gemacht haben, noch relevant oder ist es mit den Jahren überholt?

Eckart Maise: Das Citizen Office Projekt besteht aus verschiedenen Stufen. Eine Stufe zum Beispiel beinhaltet eine Zusammenarbeit mit Siemens und bezieht futuristische Objekte wie Mobiltelefone ein. In dieser Hinsicht wurde das Citizen Office von technologischen Neuerungen eingeholt. Wie auch immer, im Kern ging es bei dem Projekt um das Büro als sozialen Ort, als Raum der Interaktion und des Engagements, als Ort, wo Menschen zusammenarbeiten – und all diese Dinge sind immer noch wichtig für uns.

(smow)blog: Kann man also sagen, dass sich die Büroumgebung als Citizen Office entwickelt hat, wenn auch nicht genau so wie vorausgesagt?

Eckart Maise: Im Hinblick auf einzelne Elemente auf jeden Fall. Wenn man auf irgendein Projekt zurückblickt, das sich mit Zukunftsentwicklungen auseinandersetzt, kann man immer die rosarote Brille aufsetzen, die die Vorhersagen herausfiltert, die realisiert wurden; jedenfalls haben viele Elemente aus dem Citizen Office fraglos die Bürogestaltung der letzten 20 Jahre beeinflusst.

(smow)blog: Blickt man auf die letzten 20 Jahre von Ad Hoc über Level 34 bis hin zu Joyn zurück, hat Vitra immer wieder neue Büromöbelsysteme entwickelt. Warum ist das „System“ so wichtig in Vitras Büromöbelphilosophie und warum wird ihm mehr Bedeutung geschenkt als dem einzelnen Möbelstück?

Eckart Maise: Wenn ein Architekt ein Büroprojekt plant, betrachtet er zuerst die Grundstruktur des Raumes und überlegt, wie viele Menschen darin untergebracht werden müssen, wie diese Menschen arbeiten, wie sie interagieren, welche Art von Situationen an dem Ort möglich sein müssen usw. In diesem Kontext sind Möbelsysteme mit Tischen, Stauraum usw. sehr wichtig. Der Stuhl z.B. kommt später, am Anfang sind das nur Punkte auf dem Grundriss. Systeme bieten uns außerdem dauerhafte Flexibilität. Vitra ist als Unternehmen bekannt für den Vertrieb von Designklassikern. Von den Klassikern wissen wir nur zu gut, dass ein Produkt für einen langen Zeitraum relevant sein kann, aber auch dass man sich aktiv darum kümmern muss und dass man es gelegentlich anpassen muss, wenn sich die Situation oder die Anforderungen ändern. Bei einem System ist das Bedürfnis nach Veränderung ein eingebautes Merkmal. Ein System besteht aus einzelnen Elementen und wenn sich die Umstände ändern, kann man einfach die Elemente anpassen. Oder verbessern. Die Grundidee und das Konzept können aber weiter bestehen bleiben.
Bei Ad Hoc z.B. ist das zentrale Element die Stange unter der Tischplatte und die ist seit 1993 die gleiche geblieben. Alle Generationen von Ad Hoc sind also miteinander kompatibel.

(smow)blog: Was zu der naheliegenden Frage führt, wer oder was entscheidet, dass ein neues System entwickelt oder ein bestehendes weiterentwickelt werden muss. Sind das Sie oder die Designer?

Eckart Maise: Es sind beide Seiten ein bisschen. Manchmal kommt von uns der Input mit einer Untersuchung oder Beobachtungen, die wir gemacht haben, oder durch Kundenfeedback, und manchmal treten die Designer mit Ideen und Vorschlägen an uns heran. Dann gibt es da natürlich noch allgemeine Änderungen der Normen und Standards, auf die wir reagieren müssen. Es ist ein kontinuierlicher Prozess, aber nie etwas, das ohne Grund passiert.

(smow)blog: In Bezug auf diese Veränderungen: Die Orgatec findet alle zwei Jahre statt – ist das ein angemessener Rhythmus für Büromöbel?

Eckart Maise: Ich denke, ja. Die Orgatec ist nicht die einzige Messe, auf der wir neue Büroobjekte präsentieren, aber sie definiert in gewisser Weise den Rhythmus für unsere Produktentwicklung, ähnlich wie Mailand für unsere Home Collection. Und bestimmt wäre ein jährliches Event zu viel für Büromöbel.

(smow)blog: Vitra ist allgemein für seine Langzeitkooperationen mit Designern wie Antonio Citterio oder Alberto Meda bekannt. Die sind mehr oder weniger mit Vitra gewachsen. Kann man zu einem Antonio Citterio oder Alberto Meda denn noch „Nein“ sagen?

Eckart Maise: Wenn man an einem Projekt arbeitet, muss man ständig „Nein“ sagen. Ansonsten wäre es ein bisschen so als würde man einen Architekten mit einem Hausbau beauftragen und ihm sämtliche Entscheidungen überlassen. Das Risiko, dass man am Ende nicht in dem Haus wohnen will, ist sehr hoch. Im Zuge des Dialoges ist es wichtig, dass beide Seiten ihre Position deutlich machen. Wir als Unternehmen vertreten dabei die Position des Herstellers und der Kunden. Also ja, manchmal gibt es ein Nein. Aber nicht nur von uns, auch die Designer haben ihre Meinung und vertreten eine Position. Aber wie auch immer, ein Nein muss nicht endgültig oder kontraproduktiv sein. Es ist Teil eines offenen Dialoges, wo Diskussionen ein wichtiger Prozess sind, man aber immer eine Lösung findet.

(smow)blog: Und zum Schluss unsere traditionelle Orgatec-Frage: Wie sieht Ihr eigenes Büro aus?

Eckart Maise: Ich arbeite im Stehen. Mein Schreibtisch ist 1,50 m hoch und mein Stuhl ist ein Lehrmodell, das wir vor einigen Jahren entwickelt haben. Ich habe das „High Work“-Modell, das wir hier auf der Orgatec präsentieren, also gelebt und gewissermaßen perfektioniert.

(smow)blog: Und warum stehen Sie lieber beim Arbeiten?

Eckart Maise: Ich halte es für einen ausgezeichneten Weg zu arbeiten: Es ist dynamisch und aktiv. Im Laufe des Tages bin ich häufig in Meetings oder anderen Situationen, die nicht an meinem Schreibtisch stattfinden. Man kann sagen, ich bin nie länger als eine Stunde an meinem Schreibtisch. Und während dieser Zeit kommen ständig Kollegen zu mir, um etwas zu besprechen oder zu fragen. Durch das Arbeiten in aufrechter Position, kann ich sitzen bleiben und trotzdem auf Augenhöhe diskutieren, was die Produktivität und den Komfort verbessert.

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