Thonet & Design @ Die Neue Sammlung – Designmuseum München

Es ist eine unumstrittene Tatsache, dass die kreative Arbeit des aus Boppard am Mittelrhein stammenden Tischlermeisters Michael Thonet und später des Unternehmens Thonet das Möbeldesign und -verständnis sowie die gesamte Möbelindustrie von der Produktion bis hin zum Handel und Vertrieb maßgeblich geprägt hat. Mit der Ausstellung „Thonet & Design“ begibt sich Die Neue Sammlung München auf eine Reise durch die 200-jährige Unternehmens- und Designgeschichte Thonets.

Thonet & Design, Die Neue Sammlung - The Design Museum, Munich

„Thonet & Design“, Die Neue Sammlung – Designmuseum, München

Der Mittelrhein, an dem Boppard liegt, ist eine Region, um die sich viele Legenden und Mythen ranken und in die sich Michael Thonets Geschichte leicht einreihen könnte. Der Werdegang des „Tischlers, der das Bugholzverfahren erfand“ begann 1819 mit der Eröffnung seiner ersten Werkstatt, die er von seinem Vater Anton geerbt hatte. Das genaue Datum der Gründung ist nicht bekannt, doch die Werkstatt lag zwischen der heutigen Steinstraße und der Pützgasse im sogenannten Balz, einem kleinen Viertel von Boppard.

Nachdem er ein Jahrzehnt lang als Tischler gearbeitet hatte, begann Michael Thonet etwa 1830 mit dem Formen von verleimten Holzstreifen zu experimentieren, einem Verfahren, das bereits aus der Konstruktion von Musikinstrumenten oder langen Bögen bekannt, im Bereich Möbelbau allerdings relativ neu war. Einer der ersten, der hiermit erfolgreich war, war der belgische Tischler Jean-Joseph Chapuis zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert.

Michael Thonet entwarf um ca. 1836 den Boppard Stuhl, mit dem die Ausstellung „Thonet & Design“ eröffnet wird. Interessant ist hierbei das Konstruktionsprinzip, das auf vorgefertigten Komponenten basiert und für die Entwicklung und den Erfolg des (zukünftigen) Unternehmens Thonet von zentraler Bedeutung war. So verkörpert der Boppard Stuhl wunderbar die Verbindung zwischen Thonet und Design. Thonet war gewissermaßen schon Design, bevor es Design gab …

Boppard Chair by Michael Thonet, as seen at Thonet & Design, Die Neue Sammlung - The Design Museum, Munich

Boppard Stuhl von Michael Thonet, gesehen in der Ausstellung „Thonet & Design“, Die Neue Sammlung – Designmuseum, München

1837 erwarb Michael Thonet zusammen mit dem Bopparder Apotheker Martin Genius die so genannte Michelsmühle, ein Objekt in der Nähe der Thonet Werkstatt, wo Thonet und Genius eine größere Werkstatt einrichteten und mit der Herstellung von Klebstoffen begannen. Dies ermöglichte Michael Thonet nicht nur mehr Unabhängigkeit für seine Arbeit und Klebstoffe, die seinen Bedürfnissen entsprachen, sondern auch ein zweites Standbein für seinen Betrieb.

Dieser war sehr erfolgreich, denn 1841 wurde Michael Thonet als einer der am höchsten besteuerten und somit vermutlich wohlhabendsten Händler in Boppard registriert. Kurz darauf wurde er finanziell stark herausgefordert, als die im Rahmen seiner zahlreichen Patentanmeldeverfahren angefallenen Schulden fällig wurden.

Doch in der Nähe von Boppard am Rhein, einer Region, um die sich viele Legenden und Mythen ranken, befindet sich auch das Schloss Johannisberg, wo sich einst Fürst Klemens von Metternich aufhielt. Nachdem er in einer Ausstellung in Koblenz Arbeiten von Michael Thonet gesehen hatte, lud er diesen nach Johannisberg ein, um seine Werke genauer zu diskutieren. Fürst Metternich war von den Objekten beeindruckt und riet Thonet nach Wien zu ziehen, wo er ihn unterstützen wollte. Ein Angebot, dass Michael Thonet weise annahm.

Thonet & Design, Die Neue Sammlung - The Design Museum, Munich

„Thonet & Design“, Die Neue Sammlung – Designmuseum, München

Boppard und Wien sind für die Design- und Unternehmensgeschichte Thonets beide von Bedeutung. Da wir Michael Thonets Biografie bereits in vielen Blogposts thematisiert haben, verweisen wir an dieser Stelle darauf. Die frühen Entwicklungen in Wien werden in „Thonet & Design“ anhand zahlreicher Stühle dargelegt, die zusammen mit dem englischen Architekten Peter Hubert Desvignes im Rahmen von Innenarchitekturaufträgen für die Schlösser Liechtenstein und Schwarzenberg entwickelt wurden, aber auch durch Werke, die allein von Thonet entwickelt wurden, sich aber eindeutig von solchen Desvignes-Kooperationen ableiten. Darunter befindet sich z. B. der Stuhl Nr. 4, mit dem Thonet erstmals ein breiteres Publikum erreichte, und vor allem der Stuhl Nr. 14, der heutige Thonet 214, der nicht nur den Grundstein des Unternehmens bildete, sondern durch die Verwendung von vorgefertigten, standardisierten Komponenten in einem Produktionssystem mit ausgebildeten, aber ungelernten Arbeitern und auf der Grundlage des Massivholzbiegens sowohl die industrielle Möbelproduktion als auch den weltweiten Möbelvertrieb einleitete. Der Stuhl Nr. 14 mag formal reduziert, bescheiden und zurückhaltend sein, sollte aber nicht unterschätzt werden.

Nr 14 Michael Thonet, as seen at Thonet & Design, Die Neue Sammlung - The Design Museum, Munich

Nr. 14 von Michael Thonet, gesehen in der Ausstellung „Thonet & Design“, Die Neue Sammlung – Designmuseum, München

Michael Thonet starb 1871, nachdem er der Legende nach bei dem Besuch eines Buchenwaldes an Fieber erkrankt war. Er übertrug sein Unternehmen an seine Söhne, was 1853 mit der Gründung der Firma Gebrüder Thonet geregelt worden war. Im Gegensatz zu den Brüdern der rheinischen Burgen Sterrenberg und Liebenstein bei Boppard kämpften sie nicht eifersüchtig um Geld, sondern arbeiteten an der Weiterentwicklung der Familientradition.

Dies wird in „Thonet & Design“ anhand von Arbeiten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verdeutlicht, wie z. B. dem Hochlehner Stuhl Nr. 17, dem Klapp-Fauteuil Nr. 6310, dem fast quadratischen und beinahe okkult anmutenden Stuhl Nr. 51 oder dem Bürostuhl Nr. 141. All diese Stühle demonstrieren unterschiedliche Auffassungen von Form, Funktion und Materialien und helfen dabei, sich dem Verständnis des Jugendstil um die Jahrhundertwende zu nähern. Während die Arbeiten aus dem frühen 19. Jahrhundert mit ihren verspielten Kurven als Vorlage für die figürlich-blumigen Muster von Charles Rennie Mackitosh gelten könnten, könnte man bei den Arbeiten des frühen 20. Jahrhunderts denken, Thonet hätte sich von den Vertretern des Jugendstils inspirieren lassen. Der Einfluss von Henry van de Velde ist in einigen Werken, wie dem Stuhl Nr. 511, deutlich zu erkennen.

Es folgen Arbeiten aus Stahlrohr, wie zwei B 3 Wassily Chairs von Marcel Breuer, einer von Thonet Frankenberg und einer von Standard Möbel Berlin. Und damit wird perfekt unterstrichen, dass die Entwicklung von Bugholzmöbeln zwar eine Leistung von Michael Thonet war, Stahlrohrmöbel aber keine Thonet-Entwicklung waren. Dennoch war Thonet eines der wichtigsten Unternehmen bei der Entwicklung und Etablierung des Genres. Und das nicht nur durch die unzähligen Werke, die das Unternehmen in den Zwischenkriegsjahren geschaffen hat, sondern, zumindest anfangs, auch formal. Dieser Einfluss zeigt sich in der Ausstellung „Thonet & Design“ durch die räumliche und formale Nähe zwischen Mies van der Rohes Stahlrohr-Freischwinger MR 10 von 1927 und einem B 9 Bugholz-Sessel von 1904 deutlich. Leider gibt es bei „Thonet & Design“ keine Thonet Schaukelstühle, der Vergleich zwischen dem MR 10 und beispielsweise dem Schaukelstuhl Nr. 1 wäre noch zufriedenstellender.

Mit Werken von Marcel Breuer, wie dem B 33, B 35 oder B 55, aber auch einem B 43 von Mart Stam und einem B 257 von Bruno Weill und André Guyot ist die Stahlrohrpräsentation in der Ausstellung „Thonet & Design“ kurz und spiegelt damit die sehr kurze Zeit wider, in der Stahlrohrmöbel neue Vorstellungen von einer neuen Gesellschaft und neue Ansätze in Architektur, Wohnen und Design definierten. Die Geschwindigkeit, mit der die Präsentation zum Material Holz zurückkehrt, bestätigt, dass trotz der zeitgenössischen Faszination für Stahlrohrmöbel in den Zwischenkriegsjahren Holz wohl wichtiger war. Besonders schöne Beispiele dafür sind Ferdinand Kramers B 403, eine Arbeit, die im Rahmen des Programms Neues Frankfurt entstand, oder zwei Zwischenkriegsarbeiten von Adolf Schneck, die im Rahmen des Wiener Werkbundes entworfen wurden.

Works by Gebrüder Thonet, Bruno Weill, Andre Guyot, Marcel Breuer & Mart Stam, as seen at Thonet & Design, Die Neue Sammlung - The Design Museum, Munich

Arbeiten von den Gebrüdern Thonet, Bruno Weill, Andre Guyot, Marcel Breuer & Mart Stam, gesehen in der Ausstellung „Thonet & Design“, Die Neue Sammlung – Designmuseum, München

Nachdem Thonet im Ersten Weltkrieg viel von seinem Produktionsnetzwerk verloren hatte, etablierte sich das Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankenberg wieder und begann sich auch formal, materiell und konzeptionell neu zu positionieren und neue Wege zu gehen, und das vor allem durch Kooperationen mit externen Designern. Zu den Nachkriegsobjekten, die in „Thonet & Design“ präsentiert werden, gehören Werke von Günther Eberle, Kurt Felkel, Gerd Lange und eine ganze Reihe von Werken von Verner Panton, darunter erfreulicherweise ein 270 F Sessel, ein durchaus zeitgenössisches Objekt und unbestreitbar einer von Pantons liebenswerteren Stuhlentwürfen. Ein weiterer wichtiger Schritt in Thonets Nachkriegsentwicklung war die Ernennung des verstorbenen James Irvine zum Art Director im Jahr 2007, eine Zeit, die von Kooperationen mit Konstantin Grcic, Naoto Fukusawa, Robert Stadler oder Stefan Diez geprägt war.

„Thonet & Design“ endet mit Sebastian Herkners 118 aus dem Jahr 2018, der im Wesentlichen eine Neuinterpretation des B 1 aus dem Jahr 1948 darstellt. Der B 1 ist leider nicht Teil der Ausstellung, jedoch befindet sich der dem B 1 sehr ähnliche B 3 einige Stufen unter dem 118, sodass hier ein Vergleich möglich ist. So wird unterstrichen, was Sebastian Herkner erreicht und wie er den B 1 bzw. B 3 neu interpretiert hat – sowohl aus formaler als auch aus technischer/konstruktiver Sicht.

Marcel Breuer B 3 Wassily armchair & Postsparkasse chair by Otto Wagner & Josef Hoffmann, as seen at Thonet & Design, Die Neue Sammlung - The Design Museum, Munich

Marcel Breuers B 3 „Wassily“ Chair, Postsparkassenstuhl von Otto Wagner & Josef Hoffmann und Stuhl Nr. 511 von den Gebrüdern Thonet, gesehen in der Ausstellung „Thonet & Design“, Die Neue Sammlung – Designmuseum, München

„Thonet & Design“ bietet zwar nur einen kleinen, aber sehr angenehmen und persönlichen Einblick in die Designgeschichte des Unternehmens. Zu unseren Highlights gehören unter anderem ein Siesta Medizinal Sessel von Hans & Wassili Luckhardt, ein Werk, das, wie in der Ausstellung „Anton Lorenz – From Avant-Garde to Industry“ im Vitra Design Museum Schaudepot erwähnt wurde, Thonet im Zweiten Weltkrieg am Leben hielt und so den Relaunch in Frankenberg ermöglichte. Zudem ebnete der Sessel den Weg für den gepolsterten Liegesessel. Außerdem gibt es einen W 199 a von Walter Gropius und Benjamin C. Thompson aus dem Jahr 1951, der von Thonet Industries USA produziert wurde und somit, bevor Rechtsstreitigkeiten und Anwälte die in München ausgestellten Werke aus Amerika verbannten. Das wohl größte Highlight in „Thonet & Design“ ist einer der originalen Stühle Nr. 14, der aus geklebten Furnierstreifen und nicht aus dem gebogenen Massivholz hergestellt wurde. Michael Thonets Experimente mit Massivholz waren und sind von immenser Bedeutung. Hätte Michael Thonet nicht mit Massivholz experimentiert und vor allem kein Patent dafür erhalten, wäre es fraglich, ob es eine Ausstellung wie „Thonet & Design“ geben würde.

Also nochmal: Der Thonet 214 sollte nicht unterschätzt werden.

Und während wir normalerweise nicht erwähnen, was nicht in den Ausstellungen zu sehen ist, sind die zahlreichen X60-Kollektionen von Delphin Design zu erwähnen, die das Rückgrat der Projektarbeit des Unternehmens bilden und uns daran erinnern, dass Thonet bis Ende der 1860er Jahre ausschließlich in großen Mengen verkaufte; dass der Erfolg des Nr. 14 auf dem aufbaut, was heute als Objektgeschäft bezeichnet wird, und, dass dieser Bereich für die weltweite Möbelindustrie nach wie vor das Wichtigste bleibt, wie Michael Thonet seinerzeit vorhersagte. Erwähnenswert ist hier auch der Blogpost „Friedrich von Borries: Politics of Design, Design of Politics“ in der Neuen Sammlung.

Designerinnen sind nicht vertreten. Das Thonet Portfolio ist aber nicht nur männlich, das wissen wir und können wir bestätigen. Dass in einer solchen Ausstellung, die 200 Jahre Stuhldesign nachzeichnet, keine Werke einzelner weiblicher Designerinnen zu sehen sind, unterstreicht für uns das Problem der Sichtbarkeit (jüngerer) zeitgenössischer Designerinnen. Wie wir im Blogpost zu der Ausstellung „Symposium: A Woman’s Work“ im Kunstgewerbemuseum Dresden festgestellt haben, besteht das Risiko, dass die Geschichte des Designs des frühen 21. Jahrhunderts als genauso männlich aufgezeichnet und wahrgenommen wird wie die des frühen 20. Jahrhunderts. Ob es dazu kommt oder nicht, wird weitgehend von Herstellern wie Thonet, Museen wie Die Neue Sammlung und Ausstellungen wie „Thonet & Design“ bestimmt.

Works by Walter Gropius, Benjamin C. Thompson & Kurt Felkel, as seen at Thonet & Design, Die Neue Sammlung - The Design Museum, Munich

Arbeiten von Walter Gropius, Benjamin C. Thompson & Kurt Felkel, gesehen in der Ausstellung „Thonet & Design“, Die Neue Sammlung – Designmuseum, München

Basierend auf einem Ausstellungskonzept von Atelier Steffen Kehrle, ASK, nimmt „Thonet & Design“ den Besucher mit auf eine chronologische Reise vom Boppard Stuhl bis zum 118, dem Offenbach Stuhl, wie nur wir ihn kennen. Die Architektur des Raumes ermöglicht es sogar, Stühle von oben zu betrachten, eine seltene und nicht uninteressante Perspektive. Die ebenso wichtige Rückansicht wird dagegen leider durch die grauen Wände verdeckt. Transparente Wände wären hilfreich gewesen, und wenn wir etwas zu bemängeln hätten, wäre es dies. Wenn wir eine zweite Beschwerde hätten (Verzeihung), dann wäre es der Mangel an Thonet Stühlen zum Ausprobieren. Das Design eines Stuhls beinhaltet nicht nur die Form, sondern auch den Sitzkomfort, die Funktionalität und die Haptik. Und wenn wir eine dritte Beschwerde einreichen dürften, wäre es, dass der Besucher weitgehend auf sich allein gestellt ist, ähnlich wie ein Tourist, der die vorbeiziehenden Burgen und Weinberge vom Deck eines Mittelrhein-Kreuzfahrtschiffes aus betrachtet. Man genießt es, aber wenn man keinen Reiseführer hat, verpasst man Einiges. Zwar gibt es Führungen und einen Katalog, aber auch ein paar kurze Texte wären hilfreich gewesen.

„Thonet & Design“ läuft bis Sonntag, den 2. Februar 2020 in Die Neue Sammlung, Pinakothek der Moderne, Barer Straße 40, 80333 München.

Alle Details zur Ausstellung und zum Rahmenprogramm gibt es auf https://dnstdm.de.

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