smow Blog Designkalender: 30. April 1993 – Eröffnung „Citizen Office“ im Vitra Design Museum

Mit der Ausstellung „Citizen Office“ realisierte das Vitra Design Museum nicht nur seine erste konzeptionelle, forschungsbasierte Ausstellung, sondern auch eine der ersten Museumsausstellungen zum Thema „Arbeitswelten“. Eine Ausstellung, die damals neue Wege und Reflexionen anstieß und auch heute noch interessante Einsichten und Erkenntnisse zu bieten hat.

Citizen Office as visualised by James Irvine


„Citizen Office“ visualisiert von James Irvine

Die Allgegenwart der Büroarbeit in unserer heutigen Gesellschaft lässt schnell vergessen, wie „jung“ das Büro als physischer Raum eigentlich ist. Der gemeinsame Ursprung von „Büro“ und dem französischen „bureau“ ist das altfranzösische Wort „burel“. Dabei handelte es sich um ein grobes Tuch, mit dem ein Tisch/Schreibtisch an einem Dienstort bedeckt wurde. Der Begriff ging dann im Laufe der Zeit auf diesen Tisch/Schreibtisch über. Das englische „office“ meinte im Gegensatz dazu ursprünglich eine Funktion (ein Office of State, ein Office of the Church), das heißt also eine Person, und die mit dieser Person verbundenen Aufgaben. Dieses „office“ entwickelte sich im Laufe der Zeit zu dem Ort, an dem die Arbeit eines „office“ ausgeführt wurde. In ähnlicher Weise ging die Bedeutung von „burel“ auf den Raum über, in dem der Schreibtisch/die Tafel stand. Im Zuge der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen des 19. Jahrhunderts, das heißt im Kontext der fortschreitenden Industrialisierung, des Übergangs von Monarchien zu parlamentarischen Demokratien, einer zunehmend mobilen Weltgemeinschaft, des wachsenden internationalen Handels und der damit verbundenen Entwicklung der dafür notwendigen finanziellen, kommerziellen, rechtlichen und staatlichen Strukturen, entwickelte sich schließlich das heutige Verständnis vom Büro als einem Ort der nicht-manuellen, an den Schreibtisch gebundenen Arbeit.

Die Entwicklung unserer Auffassung des „Büros“ hat jedoch mehrere Dimensionen. Was das Büro im Sinne eines Arbeitsorts angeht, hat sich unser Verständnis seit der Anfangszeit im 18. Jahrhundert nur wenig verändert – das ist in vielerlei Hinsicht die uninteressanteste Ebene. Sehr viel interessanter ist die Entwicklung unserer Auffassung des „Büros“ hinsichtlich seiner Beziehung zum Individuum und der Gesellschaft. Zum Beispiel wird nur selten bemerkt, dass die Endung „-ratie“ von „Bürokratie“ dieselbe ist wie bei „Autokratie“, „Aristokratie“ oder „Demokratie“. Das heißt, wenn Demokratie die Herrschaft/Autorität des Volkes ist, dann ist Bürokratie, die Herrschaft/Autorität des Amtes, ein Zustand, der auf die Zeit des „Office of State“ und des „burels“ zutrifft. Mit einer Gesellschaft, die immer komplexer, aufgeklärter und reformierter wurde, entwickelte sich jedoch auch das Wesen des Amtes weiter: Während zum Beispiel die großen Handelsbüros des 19. Jahrhunderts den feudalen Systemen und der vorherrschenden Klassentrennung entsprachen, wurde das Büro im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer zunehmend offenen und reaktionsfähigen Institutionen, sowohl intern als auch extern.

Das Büro blieb jedoch ein Ort der Strukturen, Prozesse und Kontrollen. Es blieb, wenn man so will, eine lokale Manifestation des Gesellschaftsvertrags, wurde aber, analog zur breiteren Gesellschaft, viel weniger reglementiert, weniger hierarchisch organisiert und gelegentlich ein wenig bunter. So ist das Büro vor allem ein Spiegelbild der Gesellschaft, ihrer Haltungen, Auffassungen und Positionen. Oder vielleicht besser gesagt ein Echo der Gesellschaft, denn Veränderungen in der Bürokultur hinkten stets den Veränderungen der breiteren Kultur hinterher.

Und während sich Haltungen, Auffassungen und Positionen der Gesellschaft meist sehr langsam verändern, gibt es Momente plötzlichen Wandels. Einer dieser Momente sind die späten 1980er Jahre, in denen rasante Entwicklungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen auch den Beginn eines neuen Bürozeitalters einläuteten. Diesem neuen Bürozeitalter versuchte sich die Ausstellung „Citizen Office“ anzunähern.

Sketch by Michele De Lucchi, with Geert Koster of the desk constellation for das flexible Büro concept for Citizen Office, Vitra Design Museum

Skizze von Michele De Lucchi, mit Schreibtischkonstellation von Geert Koster für das flexible Bürokonzept, „Citizen Office“, Vitra Design Museum

„Citizen Office“ brachte in mehrfacher Hinsicht zwei Wege zusammen: Ende der 1980er Jahre begann Vitra mit dem Projekt „Office Dreams – Dream Offices“, in dessen Rahmen in Zusammenarbeit mit DesignerInnen Konzepte für „ein schöneres, lustvolleres und sozialeres Büro“1 entwickelt werden sollten. Das Projekt wurde maßgeblich vom damaligen Vitra-Geschäftsführer Rolf Fehlbaum vorangetrieben und war als gezielte Antwort auf die sich verändernden Umstände gedacht. Etwa zur gleichen Zeit plante das Vitra Design Museum mit Ettore Sottsass die Entwicklung einer monografischen Ausstellung, die Überlegungen von Sottsass zu „The Hedonistic Office“ einbeziehen sollte. Sottsass schlug vor, aus diesem Teil der Ausstellung den eigentlichen Schwerpunkt zu machen. Eine Anregung, auf die sich das Vitra Design Museum einließ. Michele De Lucchi, Andrea Branzi und Rolf Fehlbaum wurden als Kooperationspartner in diesen Prozess eingebunden, auch wenn es ursprünglich gar nicht konkret um eine Ausstellung und schon gar nicht um Möbel gehen sollte.

Vielmehr begann das Quartett eine Auseinandersetzung, die sich über fünf Treffen im Verlauf des Jahres 1992 erstreckte. Im Wesentlichen war „die Welt des Büros“ für die Beteiligten ein sogenanntes „bösartiges Problem“, für das es keine endgültige Lösung gab. Stattdessen versuchten die vier Lösungsansätze zu finden, indem sie Überlegungen aufwarfen, die sich weniger auf das Büro selbst, und vielmehr auf die Funktion des Büros, auf die Zusammenhänge zwischen Büro, MitarbeiterInnen, Gesellschaft, Technologie, städtischen Räumen usw. bezogen. Man versuchte Antworten auf Fragen zu finden, indem man, wie Andrea Branzi bemerkte, mit der Absicht diskutierte, „Widersprüche aufzuzeigen“2. Widersprüche, die sich aus dem Gegenüber der Realität des Büros und den zeitgenössischen Anforderungen an Büroangestellte ergeben und die sich zwischen Büroleben und Privatleben auftun.

Dabei handelt es sich um eine Diskussion, die einem heute vertraut sein mag, die damals aber noch nicht geführt wurde. Damals war diese Diskussion völlig neu. An ihr nahmen nicht nur drei der führenden Protagonisten des italienischen ‚Radical Design‘ teil, sie basierte auch in vielerlei Hinsicht auf Gestaltungsauffassungen, die sich im Italien der Nachkriegszeit herausgebildet haben. Der italienische Beitrag bestand vor allem in der Erweiterung des Begriffs „Design“ und in einem Verständnis von „Funktion“, das über die physikalische Dimension hinausging und die lineare Beziehung zwischen Form und Funktion infrage stellte. Form konnte so nicht länger notwendigerweise der Funktion folgen.

Was als theoretische Auseinandersetzung begann, führte zu einer physischen Manifestation, einer Ausstellung: Sottsass, De Lucchi und Branzi schufen jeweils einen Büroraum. Räume, die, wie Andrea Branzi betonte, nicht als einzelne Projekte zu verstehen waren, sondern als „verschiedene Landschaften, die sich in ihrer unterschiedlichen Mischung miteinander vereienigen“, konkret: das flexible Büro, das nomadische Büro, das vertikale Büro.

In seiner Einleitung zum Ausstellungskatalog* bemerkt Rolf Fehlbaum: „De Lucchi hat mehr als die anderen daran erinnert, dass wir uns realen Problemen zu stellen haben“, und für De Lucchi bestand das realste Problem darin, dass zeitgenössische Büros „nicht flexibel genug waren“3. Seine Antwort war ein System von Schreibtischen, Stauräumen und Stühlen, die wandelbar und variabel waren. Nutzung und Funktion waren nicht streng definiert, sondern sollten in der Praxis definiert und entwickelt und immer wieder neu festgelegt werden, denn wie De Lucchi meinte: „An das wirkliche Leben im Büro, an das, was tatsächlich geschieht, kommt man nicht heran.“ Man sollte es deshalb auch nicht versuchen und stattdessen Raum lassen, damit sich die Realität entwickeln kann.

In ähnlicher Weise war Ettore Sottsass der Meinung, das Büro müsse „zu einem beweglichen Instrument werden, um dem psychologischen Nomadentum heutiger Menschen zu entsprechen“. Damit, und das ist nicht uninteressant, formuliert er ein Verständnis eines geistigen Nomadentums, ganz im Gegensatz zum physischen Nomadentum, wie es einige Jahre später bei DesignerInnen so populär wurde. Er schuf so mit seinem nomadischen Büro ein Büro, das, anders als das zurückhaltende, bescheidene, flexible Büro De Lucchis, genau dem entspricht, was man von einem Ettore Sottsass erwarten würde: Hell, bunt, schräg, poppig und mit einem großen Zelt in der Mitte. Das Zelt ist einerseits eine einfache Metapher für Vergänglichkeit, Flexibilität und Nomadentum, auf der anderen Seite ist es aber auch ein Raum-im-Raum, der unzählige Funktionen erfüllen könnte – sei es geschäftlich oder privat. Außerdem  verhindert De Lucchis Entwurf vor allem in Kombination mit dem Mobiliar jede Assoziation des Büroraumes mit Mühsal, Last oder Institution.

Während die Vorschläge von Sottsass und De Lucchi trotz Zelt und ihrer Abweichungen von damaligen Bürokonventionen letztendlich weitgehend vertraute Büros mit Schreibtischen, Stühlen, Stauräumen, etc. waren, versuchte das vertikale Büro von Andrea Branzi, die sich verändernde Auffassung des Büros durch eine neue Büroszenografie zu veranschaulichen. Bei seinem Entwurf handelt es sich im Grunde um Arbeitskapseln, dünne Holzrahmen, die Arbeitsräume, aber auch Koch- und Schlafräume abstecken und damit ein entscheidendes Thema von „Citizen Office“ hervorheben: Die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Wohnung und Büro, oder wie Branzi es formulierte: „Es findet quasi ein Verschwinden der „verorteten Arbeit“ statt, ein Transformationsprozess sozialer Verhaltensmuster. So weitet sich das Büro in der Stadt aus, und die Stadt wiederum greift auf das Büro über“. Ein Prozess, in dem neue Technologien eine zentrale Rolle spielten und neue Möglichkeiten vor allem hinsichtlich des Informationstransfers und der Kommunikation innerhalb des Büros eröffneten.

Das spiegelte sich in allen drei Büros in Form einer Sammlung spekulativer Produktvorschläge wider, die das Quartett in Zusammenarbeit mit Siemens entwickelt hatte. Dazu gehörten so ambitionierte Ideen wie das Bildtelefon, ein Gerät, das Videotelefonate ermöglichte; der Datenspeicher, ein mobiles Gerät, das Informationen in digitalem Format enthielt und an jeden Computer angeschlossen werden konnte; oder die Power Books, quadratische, digitale Geräte, die formal auf Papierbüchern basierten und es dem Benutzer ermöglichten, „sich bequem zurücklehnen und einen Bildschirm zu lesen wie ein Buch“. Man stelle sich das vor – absolut unmöglich!

Die Vereinigung dieser verschiedenen Landschaften wurde in der Ausstellung durch grafische Darstellungen und Visualisierungen der dazugehörigen Diskurse verstärkt, wie sie James Irvine skizzierte, der zudem auch den Namen „Citizen Office“ vorgeschlagen hatte. Mit der Akustik der Bürolandschaft setzte sich eine Klanginstallation des Medienkünstlers Walter Giers auseinander, die wir leider noch nicht hören konnten.

Visualisation of part of Ettore Sottsass's nomadische Büro concept for Citizen Office, Vitra Design Museum

Visualisierung von Ettore Sottsass‘ nomadischem Büro, „Citizen Office“, Vitra Design Museum

Wenn man im Rückblick, 27 Jahre später, über „Citizen Office“ nachdenkt, ist weniger beeindruckend, wie viel von dem, was in der Ausstellung spekulativ angenommen wurde, heute Realität geworden ist. Auffallend ist vor allem, wie viel hier, Anfang der 1990er, von unserer heutigen flexiblen Arbeit, Vernetzung und der endlosen Verfügbarkeit vorweggenommen wurde, obwohl die notwendige Technologie noch in den Kinderschuhen steckte: Die ersten GSM-Mobiltelefone zum Beispiel wurden 1992 auf den Markt gebracht, da war das World Wide Web im Wesentlichen noch ein Forschungsprojekt. Der Weg, den wir seit 1993 beschritten haben, entspricht weitgehend den Visionen von „Citizen Office“. Und so stellt sich natürlich die Frage, ob dieser Weg der richtige war, angesichts der Tatsache, dass alles neu, offen und möglich war. Andrea Branzi schrieb zum Beispiel: „Der Einzelne, ausgerüstet mit mobilen Geräten, ist überall und jederzeit rund um die Uhr erreichbar“, oder: „Privat- und Arbeitsleben vermischen sich immer stärker… .“ Da müssten doch auch damals die Alarmglocken angegangen sein? Vor allem vor dem Hintergrund der Diskussion im Ausstellungskatalog, die auf die negativen Folgen sowohl der tayloristischen Optimierung als auch des japanisch inspirierten Ansatzes von „Company Wide Quality Control“ einging. Warum sollten permanente Verfügbarkeit und das Verschwinden der Grenze zwischen Wohnraum und Büro kein Problem darstellen und negative Konsequenzen haben? Ist nicht genau das die Basis der Maschinerie des 21. Jahrhunderts, in der sich Charlie Chaplin wiederfinden würde?

Aber wie wir bereits angemerkt haben, ging das Quartett das Thema Büro als ein „bösartiges Problem“ an, für das es keine perfekte Lösung gibt. Ein Thema, bei dem alle beantworteten Fragen dazu neigen, neue Probleme zu schaffen. Sind also ständige Verfügbarkeit und ein Verschwimmen der Grenze zwischen Wohnraum und Büro unvermeidliche Symptome der Vorteile, die mobile Technologie und Vernetzung sowohl für ArbeitgeberInnen als auch ArbeitnehmerInnen mit sich bringen? Ist das der Preis, den wir für die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsplatz zahlen? Oder vernehmen wir hier nur ein Echo größerer Zusammenhänge unserer Gesellschaft? Verstehen wir, welche negativen Folgen sich daraus ergeben? Welche Erkenntnisse gewinnen wir aus diesen Überlegungen in Bezug auf unsere heutige Technologie und ihre Entwicklungen? Schrillen die Alarmglocken, und wenn nicht, warum nicht?

Die Reflexion über „Citizen Office“ aus heutiger Sicht erlaubt zudem einen differenzierten Einblick in ein zentrales Thema der „Citizen Office“-Diskussion: die soziale Funktion des Büros, das Büro als Ort der sozialen Interaktion. Dazu gehört die Erkenntnis, dass, wenn Büros die heutige Gesellschaft widerspiegeln, das Leben im Büro kulturell den Erwartungen der MitarbeiterInnen entsprechen muss. Hier liegt wohl auch einer der Gründe für das Scheitern der berüchtigten Kabinen: Sie behinderten die soziale Funktionalität des Büros in einer Zeit zunehmender sozialer Mobilität und Diversifizierung und basierten auf Werten, die außerhalb des Büros überholt waren. Jene Kabinen trennten damit den Büroraum von allen anderen Räumen und entfremdeten so die Büroangestellten vom Büro und ihrer Arbeit.

Und das Home Office? Wir würden argumentieren, dass sich hier weitgehend dieselben Probleme auftun, da das Home Office die soziale Funktion des Büros stört. Die Kabinen sind, wenn man so will, beim Home Office nur viel weiter voneinander entfernt und müssen ebenso zu einer Entfremdung der Büroangestellten führen, weil die soziale Funktion des Büros wegfällt.

Ganz aktuell könnte die soziale Funktion des Büros wieder stärker in den Vordergrund rücken, da so viele Menschen im Home Office arbeiten müssen. Es könnte wieder deutlich werden, dass Büro und Zuhause nicht austauschbar sind. Ganz unabhängig davon, wie ähnlich man die beiden einrichtet. Der Begriff „Home Office“ bezieht sich zudem nur auf die Arbeit, denkt man Home Office weiter, sollte diese aber nicht die einzige Funktion eines solchen Büros sein.  Daraus ergibt sich ein Schritt, den man von „Citizen Office“ aus weitergehen könnte, denn bei all ihren Überlegungen zur sozialen Funktion des Büros bleiben die drei Bürovorschläge der Ausstellung in erster Linie Orte der Arbeit. Sie entsprechen damit jenem Verständnis von „Büro“, das uns seit dem 18. Jahrhundert begleitet hat und das in vielerlei Hinsicht immer uninteressanter wird. Nicht zuletzt deshalb, weil die Arbeit im Büro durch die moderne Technik zwar eine Herausforderung bleibt, die man meistern muss, der eigentliche Prozess der Büroarbeit aber im Hintergrund weitgehend von selbst abläuft. Es ist nicht so sehr die Technik, die sich in das Büro integriert hat, sondern das Büro hat sich in die Technik integriert – weshalb es möglich ist, von zu Hause aus zu arbeiten. Diese Entwicklung lässt jedoch auch Raum für die soziale, kulturelle und menschliche Funktion des Büros.

Eine Formulierung, auf die wir beim Nachdenken über „Citizen Office“ zurückkommen, ist das „psychologische Nomadentum“. Wie bei vielen Formulierungen von Sottsass verstehen wir nicht vollständig, was damit gemeint ist. Für uns steckt aber einerseits eine Ablehnung der Monotonie der Büroarbeit und andererseits eine unstillbare Neugier auf die Welt dahinter. Eine Neugier, die einst einigen wenigen Privilegierten vorbehalten war, heute aber nahezu universell ist und die durch neue Technologien genährt wird. Eine Neugierde, die uns helfen kann, die gerechtere Gesellschaft zu schaffen, die wir uns alle wünschen, und die durch die Komplexität eines Büros sowohl befriedigt als auch gefördert werden kann. Das ist aber nur möglich, wenn wir das Büro nicht mehr primär als Arbeitsort verstehen. Was aber bedeutet das wiederum für kommende Bürokonzepte?

A Citizen Office Chair, and in the background a black/turquoise filing cabinet, by Ettore Sottsass, as seen at Vitra - Typecasting, Milan Design Week 2018

Citizen Office Chair, im Hintergrund ein schwarz-türkiser Aktenschrank von Ettore Sottsass, gesehen bei Vitra – Typecasting, Möbelmesse Mailand 2018

Sicherlich war dem Quartett von „Citizen Office“ nicht vollständig klar, dass es, wohin ihre Diskussionen auch führen mögen, keine endgültige Antwort finden würde, sondern eher an einen Punkt an „der Schwelle zwischen der Kritik an jenem „Konventionellen“ und, als Option, Beispielen für eine zukünftige Büro-Landschaft“ gelangen würde. Das wird auch Rolf Fehlbaum verstanden haben, der bemerkte, dass das Quartett seine Überlegungen zu „Arbeiten und Leben im Büro“ zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen und „vielleicht Citizen Office 2 realisieren“ würde. Das ist nicht geschehen, das Thema müsste aber drei Jahrzehnte später sicherlich erneut aufgegriffen werden.

Die starke Zunahme von Heimarbeit und dezentralisiertem Arbeiten, die immer umfassendere  permanente Verfügbarkeit, die verschwindende Grenze zwischen Wohnraum und Büro, die zunehmend monotoner werdenden, formelhaften Büromöbel und die immer offensichtlicheren  Mängel und negativen Folgen dieser Zustände hätten unweigerlich dazu führen müssen, dass das Thema „Arbeiten und Leben im Büro“ neu überdacht wird. Covid-19 hat diesen Prozess nur beschleunigt und viele, die sonst nicht von zu Hause aus arbeiten, bzw. die sonst nicht die Wahl hätten, ins Home Office gezwungen. Wir sind sicher, dass es sehr viele Büroangestellte gibt, die gerne wieder ins Büro zurückkehren möchten. Genauso sicher sind wir aber, dass es ebenso viele Facility ManagerInnen und FinanzexpertInnen gibt, die die Einsparungen berechnen, die gemacht werden können, wenn alle zu Hause bleiben würden. Hinzu kommen wahrscheinlich viele UmweltexpertInnen, die mit Freude die Verbesserung der städtischen Luftqualität durch weniger PendlerInnen feststellen.

Hier tun sich Widersprüche auf, die Optionen und „Beispiele für eine zukünftige Bürolandschaft“ notwendig machen!

Sollte alles nach Plan verlaufen, findet im Oktober Europas größte Büromöbelmesse Orgatec in Köln statt. Dort werden viele solcher Beispiele präsentiert, wobei man sich vorstellen kann, dass fast alle Hersteller derzeit ihr Portfolio zügig überarbeiten, um den neuen Anforderungen durch die Covid-19-Pandemie gerecht zu werden. Parallel dazu wird Vitra, wie wir bereits 2016 prognostiziert haben, eine eigene Veranstaltung in Weil am Rhein durchführen, wo Vitras neueste Vorschläge zur Bürokultur und die neuesten Überlegungen der Vitra DesignerInnen zum Thema „Office Dreams – Dream Offices“ vorgestellt werden.

Die momentane Situation ist aber auch ein günstiger Zeitpunkt, um das „bösartige Problem“ von „Arbeiten und Leben im Büro“ aus einer theoretischeren, abstrakteren, konzeptuelleren Perspektive als es in den letzten Jahren der Fall war, zu reflektieren. Dabei sollte es nicht nur um die langfristigen Folgen der Entwicklungen in den letzten Monate gehen. Stattdessen sollte wie bei „Citizen Office“ darüber nachgedacht werden, wie sich im Zusammenhang mit der sich rasch entwickelnden Technologie die Zukunft der Büroarbeit verändert, und an welcher Stelle sich daraus neue Mängel und negativen Folgen ergeben.

 

1. Martina Arnold, Von der Amtsstube zum Bürotel, taz, 17.04.1993 https://taz.de/!1620388/ (accessed 29.04.2020)

2. and all further quotes unless stated, in Uta Brandes; Alexander von Vegesack [Ed], Citizen Office: Ideen und Notizen zu einer neuen Bürowelt, Steidl Verlag, Göttingen, 1994

3. https://www.archive.amdl.it/en/index.asp?f=/en/archive/view.asp?ID=305&h=archive (accessed 29.04.2020)

* Uta Brandes; Alexander von Vegesack [Ed], Citizen Office: Ideen und Notizen zu einer neuen Bürowelt, Steidl Verlag, Göttingen, 1994. Although we’re calling it a catalogue it is more an accompanying publication, released as it was a year after the exhibition.

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