„Der ungesehene Designklassiker“ im Deutschen Stuhlbaumuseum, Rabenau

Stellen Sie sich vor, Sie wären einer der am meisten verkauften und am meisten genutzten Stühle im Land, aber in der Designgeschichte hätte man Sie vergessen

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein lehrreiches Stuhldesign in Bezug auf Praxis,  Handwerk und Industrie des Möbeldesigns, sie wären an vielen Orten im Einsatz, aber niemand hätte Sie gesehen. Niemand würde Ihren Namen kennen, aber jede würde sich einfach auf Sie setzen.

Stellen Sie sich vor, Sie wären der EW 1192 von Horst Heyder.

Mit „Der ungesehene Designklassiker“ ermöglicht das Deutsche Stuhlbaumuseum in Rabenau den Besuchern nicht nur, sich genau das vorzustellen. Die Ausstellung trägt auch ihren Teil dazu bei, etwas an dieser unglücklichen Situation zu verbessern.

Der ungesehene Designklassiker, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Der ungesehene Designklassiker, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Rabenau, an der Seite eines unwahrscheinlich steilen Berges zwischen Dresden und Chemnitz gelegen, ist außerordentlich stolz auf seine lange Geschichte der Stuhlherstellung und verkündet selbstbewusst, die älteste Stuhlbauerstadt im gesamten heutigen Deutschland zu sein: Der erste urkundlich erwähnte Rabenauer Stuhlmacher war 1674 ein Balthasar Wünschmannen. Er wird aber zweifellos nicht der einzige Vertreter dieses Gewerbes zu dieser Zeit gewesen sein. Oder wie der sächsische Landvermesser Adam Friedrich Zürner in den frühen 1700er Jahren über Rabenau notierte: „Hier ist merkwürdig, dass fast alle Einwohner Stuhlmacher sind.1 Diese Geschichte der Stuhlmacher aus Rabenau kann man in der Dauerausstellung des Deutschen Stuhlbaumuseums nachverfolgen. Sie schließt auch die faszinierende Geschichte der Rabenauer Thonet-Plagiatsindustrie des späten 19. Jahrhunderts mit ein.

Auf die Geschichte der Stuhlherstellung in Rabenau und die der Thonet-Plagiate des späten 19. Jahrhunderts werden wir an einem anderen Tag zurückkommen. Unser Fokus liegt hier nicht auf dem, was in der Dauerausstellung des Deutschen Stuhlbaumuseums zu sehen ist – sondern auf dem, was dort nicht zu finden ist: der Stuhl, der nicht in Rabenau hergestellt wurde.

Zumindest wurde er das nicht nach heutigem Kenntnisstand. Denn der EW 1192 ist, wie man bei der Betrachtung der Ausstellung „Der ungesehene Designklassiker“ feststellen kann, ein Stuhl im Prozess der Wiederentdeckung. Es handelt sich um einen Stuhl, der aus seiner Anonymität aufsteigt und beginnt seine Geschichte zu schreiben.

Der ungesehene Designklassiker, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Der ungesehene Designklassiker, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Die Geschichte des EW 1192 beginnt ebenfalls in der Region zwischen Dresden und Chemnitz, wenn auch etwa 50 Kilometer westlich von Rabenau in Waldheim. Dort wurde 1954 das sogenannte Entwicklungsbüro Waldheim als eine von fünf neuen Einrichtungen im Rahmen einer Initiative der DDR-Regierung gegründet. Diese Initiative hatte das Ziel, nicht nur die Möbelproduktion und -versorgung, sondern auch die Innenarchitektur neu zu gestalten. Sie war stark von der Formalismusdebatte der frühen 1950er Jahre geprägt, jener Zeit, in der die junge DDR-Regierung, blindlings Stalins ideologischer Führung folgend, gegen alles und jeden wetterte, der mit der funktionalistischen Moderne der Zwischenkriegszeit in Verbindung gebracht wurde, und diese lautstark ablehnte. Dies war jedoch ein zum Glück sehr kurzlebiger Moment in der Geschichte der DDR, aus dem das Entwicklungsbüro Waldheim im Gegensatz zu Mart Stam (weitgehend) unbeschadet hervorging.

Das Entwicklungsbüro Waldheim war im Laufe der Jahrzehnte bis zu seiner Schließung vor dem Hintergrund der Ereignisse von 1989 für unzählige Möbelentwürfe und eine Vielzahl von Möbelinnovationen in der DDR verantwortlich. Dazu gehörte unter anderem das EW 9532, ein modulares Polstersitzmöbelsystem, das auf wellenförmigen, gewölbten, starren Polyurethan-Unterbauten basierte. Auf diese konnte eine Vielzahl von Sitz- und Tischelementen gesteckt und befestigt werden. Diese Arbeit, wie in einer Ausgabe von Form+Zweck“2 aus dem Jahr 1975 nachzulesen ist, stellt eine Weiterentwicklung des EW 532 dar, eines deutlich rudimentäreren Baukastensystems. Das EW 9532 griff nicht nur bewusst die damals herrschenden Positionen und Ansprüche an das Möbeldesign auf, sondern war auch in seiner Grundprämisse und Argumentation sehr zukunftsweisend. Es überzeugte mit einer Leichtigkeit, die im Widerspruch steht zu der Zeit, in der es entstanden ist.

Trotz seiner damaligen Bedeutung und Relevanz ist das Entwicklungsbüro Waldheim heute fast aus der Geschichte des Möbeldesigns in der DDR verschwunden, genauso wie der langjährige Leiter des Entwicklungsbüros Waldheim und Designer des EW 1192, Horst Heyder.

Der 1924 im thüringischen Dosdorf geborene Horst Heyder absolvierte eine Ausbildung zum Tischlermeister und studierte an der Fachschule für angewandte Kunst in Erfurt, bevor er 1954 in das Entwicklungsbüro Waldheim berufen wurde. Ab 1962 leitete er das Büro und entwickelte in diesem Rahmen eine Vielzahl von Entwürfen und Konzepten. Dazu gehören der sogenannte EW 3156 der Heinz Knorr KG, Aue (auch bekannt als VEB Polstermöbel Aue), der soweit wir wissen, aus einzelnen standardisierten, sehr schlanken Polsterelementen zu einer Sitzeinheit frei variabler Breite/Länge zusammengesetzt wird; und der Luxor für den VEB Sitzmöbelwerke Waldheim, im Grunde ein gepolsterter Schalensessel mit einer wunderbar weiten, einladenden Öffnung, in die man sich hineinfallen lassen kann. Ein weiteres Beispiel ist das Polsterelement EW 506, ein modulares Polstersystem, das die Schaffung frei variabler Polsterlandschaften ermöglichte. Dieses war ein Konzept des stets fröhlich monotonen VEB Möbelkombinat Wi-We-Na, wobei „Wi-We-Na“ die Abkürzung für Wittenberg-Weißenfels-Naumburg ist. Das EW 506, von Heyder zusammen mit Rudolf Horn entwickelt, hat offensichtlich die bereits erwähnten EW 532 und EW 9532 beeinflusst und geprägt. Das bedeutet, dass Heyder an der Entwicklung des EW 532 und des EW 9532 beteiligt war, wenn auch als Teil eines größeren Waldheim-Team-Prozesses.

Für seinen Beitrag zum Entwicklungsbüro Waldheim und zum Möbeldesign in der DDR, wurde Horst Heyder 1979 mit dem ersten Designpreis der DDR ausgezeichnet. Diese Auszeichnung erhielt er zusammen mit Rudi Högner und Horst Michel, die als Professoren an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee bzw. der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar führende Persönlichkeiten beim Aufbau und der Entwicklung des Designs in der DDR waren – so auch Horst Heyder. 

Seine heutige Anonymität teilt sich der Designer Horst Heyder mit seinem Stuhl EW 1192.

Der Unterschied besteht vielleicht darin, dass Horst Heyder tatsächlich aus dem Blickfeld verschwunden ist, während der EW 1192 nach wie vor im Licht der Öffentlichkeit steht. Denn es handelt sich um einen Stuhl, dem man in ganz Ostdeutschland regelmäßig begegnet. Ein Stuhl, der trotz seiner Allgegenwärtigkeit von niemandem wahrgenommen wird. Noch viel weniger kennt man seinen Namen und seine Biografie. Man setzt sich einfach darauf.

Bedauerlich, denn wie „Der ungesehene Designklassiker“ besser erkennen lässt, ist der EW 1192 nicht nur ein erfreuliches Stück Design, sondern auch höchst aufschlussreich im Kontext der Möbelindustrie in der DDR.

An EW 1192 in conversation with Horst Heyder, as seen at Der ungesehene Designklassiker, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Ein EW 1192 im Gespräch mit Horst Heyder, zu sehen in „Der ungesehene Designklassiker“, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau.

Die Möbelindustrie wurde wie fast alle Industriezweige in der neuen DDR verstaatlicht. Einst unabhängige Hersteller in einem freien Markt waren nun Teil einer zentralisierten Wirtschaft. Sie waren im Wesentlichen von diesem zentralisierten System, diesem zentralisierten Markt, abhängig, nicht nur in Bezug auf Geschäfte und Rohstoffe, sondern auch hinsichtlich der zu produzierenden Produkte.3

An dieser Stelle kommt eine Institution wie das Entwicklungsbüro Waldheim ins Spiel, das die Aufgabe hatte, „Möbeltypen zu schaffen und deren Entwicklung bis zur Nullserie“4 voranzutreiben. Diese Aufgabe drehte sich sowohl um die Verwaltung und die Rationalisierung der Produktion und Lieferung von Möbeln in der DDR , als auch um das Entwerfen von Möbeln.

Es ist interessant, wie aufschlussreich die Verwendung der Begriffe „Möbeltypen“ und „Nullserie“ in diesem Kontext ist.

Das Entwicklungsbüro Waldheim musste nicht nur Möbel im Kontext der spezifischen finanziellen und materiellen Besonderheiten der DDR-Wirtschaft entwerfen, die in vielerlei Hinsicht gar nicht so weit von denen Dänemarks während der 1950er und 1960er Jahre entfernt waren. Doch während Möbel, die in Dänemark während der 1950er und 1960er Jahre realisiert wurden, fortlaufend gefeiert werden, werden zeitgenössische DDR-Möbel (weitgehend) verspottet und ignoriert. Oder auf den schmachvollen Begriff  „Retro“ reduziert.

Die Gestaltung des Entwicklungsbüros Waldheim fand immer auch im Kontext der Realitäten und Eigenheiten der DDR-Hersteller statt, jener einst unabhängigen Firmen, die im Nachhinein zentralisiert wurden. Diese einst unabhängigen Firmen hatten dabei ihre ganz eigenen Geschichten, Persönlichkeiten, Fähigkeiten, Spezialitäten, Praktiken und Maschinen. Oder wie Hein Köster, der langjährige Redakteur der DDR-Designzeitschrift Form+Zweck, 1979 die Situation beschrieb: „überall geht es anders zu“.5

Solche spezifischen Umstände und Eigenheiten, sind, wie man bei der Betrachtung von “Der ungesehene Designklassiker” feststellen kann, im EW 1192 in hohem Maße verkörpert, ausgedrückt und verdeutlicht sind.

Various expression of the EW 1192 by Horst Heyder, as seen at Der ungesehene Designklassiker, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Verschiedene Ausprägungen des EW 1192 von Horst Heyder sind in „Der ungesehene Designklassiker“ im Deutschen Stuhlbaumuseum in Rabenau zu sehen.

Der EW 1192 existierte in verschiedenen ungepolsterten und gepolsterten Ausführungen sowie in einer Reihe von Maßstäben, die von „Kinderzimmer bis Küche“ 6 reichten. Er war somit ein Objekt, das sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich Verwendung fand – ein echter Mehrzweckstuhl. In diesem Kontext fungiert der EW 1192 sowohl als Möbeltyp als auch als eigenständiger Stuhl. Die Vielfalt seiner Nutzungsmöglichkeiten stellt eine konsequente Umsetzung von Horst Heyders Forderung nach „Standardsortimenten“ dar, anstatt unzähliger Einzellösungen im Möbelangebot.7 Diese Forderung basierte wohl eher auf ökonomischen und die Effizienz betreffenden Überlegungen als auf gestalterischen Prinzipien.

Andererseits geht der der EW 1192 auf einen geschmackvoll reduzierten und rationalen Entwurf zurück – optisch, konzeptionell, wie auch materiell ein Design voller Leichtigkeit. Dieses Gestaltungsprinzip steht zweifellos in Verbindung mit den Besonderheiten der DDR, wo Materialverfügbarkeit und -qualität oft entscheidende Faktoren waren, vergleichbar mit der Situation in Dänemark. Das Design ermöglichte nicht nur die Verwendung des Stuhls in kompakten Räumen, ohne zu viel Platz einzunehmen, sondern entsprach auch der Notwendigkeit, einen stabilen, robusten und variablen Stuhl in großen Stückzahlen schnell zu produzieren. Dieses Prinzip basiert auf Horst Heyders Positionen und Herangehensweisen an das Design, einschließlich seiner Ansicht, dass „jeder Ideenfindung Überlegungen zum richtigen und sinnvollen Materialsatz vorausgehen“ und dass im Gestaltungsprozess „nicht nur eine andere Form, sondern immer auch besseres Fertigen und Gebrauchen sowie besserer Materialeinsatz“ eine Rolle spielen.8 Diese Positionen und Ansätze haben in den letzten Jahren zweifelsohne an Relevanz gewonnen, da die Endlichkeit aller Materialien zunehmend real wird. Sie werden voraussichtlich auch in Zukunft von großer Bedeutung sein, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Idee, eine bessere „Nutzung“ zu entwickeln, in der Möbel- und Möbeldesignbranche selten diskutiert wird. Wie kann man im Kontext eines Stuhldesigns eine bessere „Nutzung“ entwickeln?

Was die Produktion des EW 1192 betrifft, so wurde dieser an zahlreichen Standorten in der gesamten DDR hergestellt, im Gegensatz zu den meisten Entwürfen des Entwicklungsbüros Waldheim, die von einem einzelnen Hersteller produziert wurden. Die Recherchen für „Der ungesehene Designklassiker“ haben möglicherweise 6 oder sogar 7 Standorte ans Licht gebracht: Waren, Oederan, Benneckenstein, Ellrich, Eisenberg, Erfurt und möglicherweise Haldensleben. Diese Standorte erstrecken sich über Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Es wäre jedoch nicht überraschend, wenn noch weitere Produktionsstandorte entdeckt werden. Hoffentlich auch in Berlin und Brandenburg.

An EW 1192 by Horst Heyder as its individual components (r), as the sum of those components (l) and as more than the sum of those components (as told on the poster), as seen at Der ungesehene Designklassiker, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Ein EW 1192 von Horst Heyder in seinen Einzelteilen (r), als Summe dieser Teile (l) und als mehr als die Summe dieser Teile (wie auf dem Plakat dargestellt), zu sehen in “Der ungesehene Designklassiker”, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Die Vielfalt der Produktionsstandorte hängt wohl mit der schieren Menge der produzierten EW 1192 zusammen; während anderswo in der DDR Engpässe und Wartezeiten die Regel waren, wurde der EW 1192 in einem gewaltigen Ausmaß produziert. Die Ausstellung  – und auch hier gilt, dass es sich um eine noch zu schreibende Geschichte handelt, zu der es noch viele Informationen gibt – schätzt grob eine Jahresproduktion von etwa 325.000 Stühlen. Das bedeutet, dass über die Jahrzehnte seiner Produktion möglicherweise mehr als 5 Millionen EW 1192 hergestellt wurden.

Diese Zahlen konkurrieren mit den viel zitierten und ebenso gründlich unbewiesenen weltweiten Verkaufszahlen des Thonet Stuhls Nr. 14 vor 1939. Sie bedeuten, dass am Ende der DDR auf drei DDR-Bürger möglicherweise ein EW 1192 gekommen sein könnte. Das wäre  in jeder Hinsicht eine phänomenale Stuhldichte. Die Zahlen sind aber wie gesagt im Moment reine Vermutungen und könnten falsch sein.

Auch wenn viele der EW 1192 Stühle in den 1990er Jahren verloren gingen, entsorgt oder verbrannt wurden, ist der EW 1192 nach wie vor allgegenwärtig. Es ist immer noch physisch gesund und erfüllt elegant, mühelos und äußerst komfortabel seine Funktion. Das ist zweifellos einer der Gründe für seine Allgegenwärtigkeit. Es ist auch ein Beweis für die inhärente Qualität von Design und Ausführung. Darüber hinaus ist es eine hervorragende Erinnerung daran, dass Lebenszyklus und Haltbarkeit wichtige Faktoren bei jeder Bewertung der ökologischen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeit sind.

Die zahlreichen Produktionsstandorte nutzen auch den zentralisierten Charakter der DDR-Möbelindustrie, um die ökonomische und ökologische Effizienz der Stuhlversorgung zu erhöhen. Sie nutzten die Kontrolle und das Management der zentralisierten Wirtschaft, um ein einziges Produkt an zahlreichen Standorten in Serie zu produzieren. Dadurch wurden die Kosten und der Ressourcenverbrauch des nationalen Vertriebs von einem einzigen Produktionszentrum aus geregelt. Oder wie Hein Köster weise bemerkt: „Zeichnungen zu streuen ist billiger als der Transport von fertigen Erzeugnissen“.9

Diese Position ist zwar richtig, erfordert jedoch auch ein gut durchdachtes und konzipiertes Design. Ein Design, das an zahlreichen Standorten unabhängig von den spezifischen Fähigkeiten an jedem Standort und ohne große Investitionen produziert werden kann. Etwas, das der EW 1192 unbestreitbar repräsentiert. Diese Position ist auch im Kontext unserer heutigen digitalen Produktionsmethoden, der viel gepriesenen, wenn auch nur langsam herannahenden Industrie 4.0 und den Möglichkeiten, die sich für die Möbelindustrie durch die Verteilung von 3D-Druck- oder CNC-Fräsdateien und damit durch den Wechsel von zentraler zu dezentraler Produktion ergeben, sehr relevant.

Die Vielfalt an Produktionsstandorten bedeutete auch, dass jeder Produktionsstandort den EW 1192 auf seine eigene Art und Weise umsetzte. „Überall geht es anders zu“: Zwar hatten alle Hersteller die gleichen „Pläne“, aber sie hatten ihren individuellen Charakter, der sich auch im EW 1192 niederschlug.

Dieser Zustand kann in „Der ungesehene Designklassiker“ anhand einer Präsentation von einem halben Dutzend EW 1192 verschiedener Typologien und vor allem unterschiedlicher Konstruktionen betrachtet und studiert werden. Werke, die sich zwar im Wesentlichen ähneln – die Schlitz- und Zapfenverbindungen sind beispielsweise immer vorhanden, die Bänder befinden sich an denselben Stellen, die Proportionen und inneren Verhältnisse sind weitgehend gleich -, sich aber beispielsweise in der Art und Weise unterscheiden, wie die Sitzfläche am Rahmen befestigt ist, oder in der Verbindung der Rückenlehne. 

Oder anders ausgedrückt: So sehr der EW 1192 ein Produkt war, so sehr kann er auch als „Nullserie“ betrachtet werden. Ein grundlegendes Konzept, das unterschiedlich realisiert wurde.

So kann das EW 1192 auch einen Beitrag zum Diskurs über die Zukunft der globalen Möbelproduktion und -versorgung leisten.

Eine kleine Präsentation, die den EW 1192 anhand von Plakaten vorstellt und erforscht und den aktuellen Stand der Forschung erläutert, ist ein zentraler und sehr erfreulicher Bestandteil von „Der ungesehene Designklassiker“. Hier werden zudem Beispiele des EW 1192 im Gebrauch gezeigt: eine Präsentation von etwa neun EW 1192-Biografien, erzählt von den Menschen, die sie täglich benutzen.

Zu diesen Biografien zählt beispielsweise die Landeskirchliche Gemeinschaft in Lauter-Bernsbach bei Aue, deren rund 40 EW 1192 wegen ihrer Nicht-Stapelbarkeit vom Austausch bedroht waren, bevor Tischler Dietmar Gundermann sie zu stapelbaren Stühlen umbaute und damit ihre Lebensdauer verlängerte. Der 1971 von Rainer und Brigitte Brandl aus Klingenthal an der südlichsten Grenze Sachsens erworbene EW 1192 hat zahlreiche Leben durchlaufen, u.a. als Küchenstuhl, als Werkstattstuhl und heute, nachdem er der Entsorgung nach 1989 entgangen ist, als Gartenstuhl, was die dem Werk innewohnende Flexibilität und vor allem Langlebigkeit unterstreicht.

Ein weiteres Beispiel ist das Kunstgewerbemuseum Dresden, das dank der Recherchen zu “Der ungesehene Designklassiker” nun einen EW 1192 in seiner Sammlung hat. Wobei der Stuhl schon immer im Museum war, aber eben im täglichen Gebrauch und nicht katalogisiert im Archiv. 

Die Abwertung von Artefakten aus der „Sowjetzeit“ durch Bürger des ehemaligen Westens und des ehemaligen Ostens hat grundlegend dazu beigetragen, die Wertschätzung für das Design des späten 20. Jahrhunderts in Europa zu verzerren. Hier liegt zwangsläufig einer der Gründe, warum seit 1989 so viele EW 1192 weggeworfen und verbrannt wurden. Warum an einem Holzstuhl aus der DDR festhalten, wenn es spannende neue Stühle zu kaufen gibt?

Die Ausstellung “Der ungesehene Designklassiker” liefert ein paar sehr gute Argumente dafür.

The EW 1192 Horst by Jacob Stobel (& Horst Heyder) in beech (l) and oak (r), as seen at Der ungesehene Designklassiker, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Der EW 1192 Horst von Jacob Stobel (& Horst Heyder) in Buche (l) und Eiche (r), zu sehen in “Der ungesehene Designklassiker”, Deutsches Stuhlbaumuseum, Rabenau

Obwohl es in „Der ungesehene Designklassiker“ um den EW 1192 geht, ermöglicht die Art der Präsentation auch eine mühelose und erfreuliche Einführung zu Horst Heyder und dem Entwicklungsbüro Waldheim. Diese Einführung ermöglicht es beiden, allmählich die Sichtbarkeit und Anerkennung zu erlangen, die sie unbestreitbar verdienen, die ihnen aber derzeit zu Unrecht vorenthalten wird. Eine Einführung, die weitere Maßnahmen und Forschung erfordert. Die Ausstellung  ermöglicht einen differenzierten Zugang zur Geschichte des Möbeldesigns in der DDR und bietet so eine Erzählung jenseits einfacher Klischees und schlecht begründeter Mythen.

In vielerlei Hinsicht ist es nicht nur angemessen, sondern auch wichtig, dass es der EW 1192 ist, der diesen Zugang und diese Erzählung eröffnet. Nicht nur, weil er ein weit verbreiteter Stuhl in der DDR war, sondern vor allem, weil er ein einfacher Holzstuhl ist. 

„Der ungesehene Designklassiker“ ist auch eine Einladung, den Begriff „Designklassiker“ zu hinterfragen. Ein Wort, das im Zusammenhang mit Möbeln regelmäßig verwendet wird, und zwar immer im Zusammenhang mit jenen allgegenwärtigen Stuhldesigns, von denen jedes einschlägige Museum Beispiele in seiner Sammlung hat. Aber was ist ein „Klassiker“? Wie definieren wir den Begriff? Wer definiert den Begriff? Und was sind die Werke, die nicht ‚klassisch‘ sind?

Man kann vom EW 1192 eine ganze Menge behaupten. Aber handelt es sich um einen Klassiker oder sollte der Stuhl einfach nur verstanden, gewürdigt und diskutiert werden? Muss es nicht einfach nur als Teil der Geschichte des Möbeldesigns und als Zeitzeuge der DDR und der DDR-Möbelindustrie verstanden, gewürdigt und diskutiert werden? 

Auch wenn die Ausstellung „Der ungesehene Designklassiker“ nicht mehr tun kann, als den EW 1192 einzuführen, lädt sie durch ihren offenen, nüchternen, geerdeten Charakter dazu ein, sich dem EW 1192 und dem Kontext, in dem er entstand und verschwunden ist, zu nähern. Durch die Überlegungen und Reflexionen, die die Ausstellung anregt und fördert, lässt sich ein Moment in nicht allzu ferner Zukunft erahnen, in dem wir nicht nur auf dem EW 1192 sitzen, sondern den Stuhl beim Namen kennen und ihm seinen Platz in der Möbeldesigngeschichte einräumen.

„Der ungesehene Designklassiker“ ist noch bis Sonntag, 3. März, im Deutschen Stuhlbaumuseum, Lindenstraße 2, 01734 Rabenau, zu sehen.

Alle Einzelheiten finden Sie unter https://deutsches-stuhlbaumuseum.de.

 

1.Das Zitat von Adam Friedrich Zürner begegnet einem überall im Zusammenhang mit Rabenau, aber nie mit einer Quellenangabe. Wir versuchen noch, es ausfindig zu machen, und wenn wir es gefunden haben, werden wir es aktualisieren…….

2. Jürgen Klepka, Sitzen in der Reihe, Form+Zweck, Bd. 7, Nr. 3, 1975, 14-15 Und wie immer an dieser Stelle ein großes Dankeschön an die glorreichen Leute der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, SLUB, Dresden, die Form+Zweck als Volltext OCR digitalisiert und frei zur Verfügung gestellt haben. Ein Beispiel, dem viele andere Bibliotheken und Archive folgen sollten, denn dafür ist das Internet und die digitale Technologie da…..

3. Wir verallgemeinern hier auf gefährliche Weise, sorry! Aber das ist notwendig. Neben den zentralen Designinstitutionen gab es auch firmeninterne Designteams und den einen oder anderen Freiberufler wie z.B. Karl Clauss Dietel. Man muss aber auch bedenken, dass alles vor der Produktion zentral genehmigt werden musste, man konnte nicht einfach produzieren, was man wollte, und man war auch darauf angewiesen, dass man die nötigen Materialien geliefert bekam. In dieser Hinsicht waren die Unternehmen also auf das zentralisierte System angewiesen. Wir vereinfachen auch stark die wirtschaftlichen und industriellen und kommerziellen Systeme und Realitäten in der DDR, nochmals Entschuldigung, aber das ist ein viel zu kompliziertes Thema für diesen Anlass. Lesen Sie alles selbst nach……

4. Dokumente und Materialien der 150. Sitzung der Regierung der DDR vom 21. Jan. 1954, Beschluß über die neuen Aufgaben der Innenarchitektur und der Möbelindustrie, in BArchiv DC 20-I/3/213 Die hier zitierte Passage bezieht sich nicht direkt auf das Entwicklungsbüro Waldheim, sondern ist eher eine allgemeine Absichtserklärung, aber das Entwicklungsbüro Waldheim hat diesen Teil des Plans sehr wohl aufgegriffen und ist damit, so würden wir argumentieren, sehr wohl indirekt gemeint.

5. Hein Köster, Die Erste Jahre, Form+Zweck, Vol. 11, Nr. 5, 1979 page 19

6.Erfahrung [Horst Heyder in conversation with Hein Köster] Form+Zweck, Vol. 11, Nr. 5, 1979 22-24

7. Ibid

8. Ibid

9. Hein Köster, Die Erste Jahre, Form+Zweck, Vol. 11, Nr. 5, 1979 page 19

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