Design. Farben. Lehre.: Hella Jongerius – „I don’t have a favourite colour“

Der Titel von Hella Jongerius‘ im Jahr 2016 erschienenem Buch erklärt es kurz und bündig: Hella Jongerius hat keine Lieblingsfarbe.

Das heißt jedoch nicht, dass Hella Jongerius Farben gleichgültig wären – ganz im Gegenteil.

Indem Hella Jongerius uns erklärt, warum Farben für sie wichtig sind und warum sie keine Lieblingsfarbe hat, hilft sie uns, Farben, unser Verhältnis zu Farben und die Funktionen von Farben besser zu verstehen.

The Polder Sofa by Hella Jongerius for Vitra... Proof, were it needed, that Hella Jongerius doesn't have a favourite colour...

Das Polder Sofa von Hella Jongerius für Vitra…

Hella Jongerius wurde am 30. Mai 1963 in De Meern in den Niederlande geboren, absolvierte zunächst eine Tischlerlehre, bevor sie dann an der Design Academy Eindhoven studierte und 1993 ihr eigenes Studio namens Jongeriuslab gründete. Mit diesem Designstudio realisierte sie Projekte in Zusammenarbeit mit so unterschiedlichen Auftraggebern wie u.a. Droog Design, Royal Tichelaar Makkum, Galerie Kreo, Maharam, KLM und Vitra. Die Zusammenarbeit mit Vitra kam 2005 in Form des Polder Sofas erstmals öffentlich zum Ausdruck. Dabei handelt es sich um ein Werk, das in vielerlei Hinsicht auch der Ausgangspunkt von “I don’t have a favourite colour ist”. Wie Jongerius es formuliert basiert das Polder Sofa auf einer „Collage aus verschiedenen textilen Strukturen und verschiedenen Tönen einer einzigen Farbe“. Das Sofa setzt also ganz auf Materialien und Farben. Eckart Maise, der damalige Chief Design Officer von Vitra, erinnert sich in diesem Zusammenhang, dass sich Jongerius bei der Entwicklung des Polder Sofas „darüber beschwert hat, dass unsere Stoffsortimente zu technisch und in den Möglichkeiten begrenzt waren“. Statt diese Beschwerden persönlich zu nehmen, sah Vitra hier eine Chance und bat Hella Jongerius dem Unternehmen dabei zu helfen, Farben und Materialien zu verbessern und im gesamten Vitra-Portfolio besser einzusetzen.

Hella Jongerius sagte zu und wurde 2007 zum Art Director von Vitra ernannt.

An dieser Stelle kommen wir zum vollständigen Titel des Buches: “I don’t have a favourite colour. Creating the Vitra colour & material library” – ein Titel, der den Kontext unterstreicht, in dem das Buch entstanden ist.

“I don’t have a favourite colour. Creating the Vitra colour & material library” enthält viele der in der Ausstellung “Breathing Colour” zum Ausdruck gebrachten Positionen und Argumente. Das heißt, dass das Buch nicht nur Diskussionen über die theoretischen und experimentellen Prozesse enthält, die zu der Ausstellung geführt haben, sondern auch viele der in “Breathing Colour” vorgestellten Projekte und Objekte vorstellt. Somit kann das Buch als inoffizieller Katalog zur Ausstellung “Breathing Colour” betrachtet werden.

Hella Jongerius, (in the Colour Machine showcase at CasaVitra, Milan 2016 (photo © and courtesy Vitra))

Hella Jongerius, (in der Ausstellung the Colour Machine in der CasaVitra, Mailand 2016 (Foto © und mit freundlicher Genehmigung von Vitra))

„Farben wurden im Laufe der Jahrhunderte erforscht und kategorisiert, und unzählige Farbschemata haben das Licht der Welt erblickt“, bemerkt Hella Jongerius, wobei einige, so fährt sie fort, auf rationalen Forschungen, andere auf eher persönlichen, subjektiven Ansätzen beruhen. „In meinem Ansatz regiert das Persönliche“, verrät sie, „ich stütze meine Erkenntnisse auf Intuition und persönliches Empfinden, denn ich bin davon überzeugt, dass wir nur so einen sinnvollen Schritt vorwärts machen können, wenn wir neue Farben schaffen und die Farben wiederherstellen, die wir im Prozess der industriellen Produktion verloren haben“. Verloren gegangen seien diese Farben nicht nur durch die Unwägbarkeiten und Zwänge der industriellen Produktion, sondern auch durch die Standardisierung und Optimierung, auf die sich die Industrie stützt. Diese “objektiven, allumfassenden RAL-, Pantone- oder NCS-Farbsysteme” ließen heute keinen Rückzug und keine Hinterfragung mehr zu. “Millionen von Farben sind für uns kategorisiert, strukturiert und sortiert. Wie können wir in diesem Szenario jemals eine intime Beziehung zu Farben aufbauen?“ fragt Hella Jongerius.

Diese Frage ist weitgehend rhetorisch. Uns bleibt allein das Szenario zu ändern und wie Hella Jongerius argumentiert, sollten und müssen wir, das Szenario ändern.

Das Buch “I don’t have a favourite colour” sollte, auch wenn uns der Begriff Manifest im zeitgenössischen Kontext eher skeptisch macht, als solches gelesen werden. Diese Manifest schließt dann auch die Ausstellung “Breathing Colour” mit ein.

Jongerius Manifest fordert aktiven Widerstand: Designer aller Couleur sollen die Farb- und Materialoptionen, die ihnen im Laufe eines Projekts angeboten werden, nicht passiv hinnehmen, sondern für das streiten, was sie für die richtige, sinnvolle Option im Rahmen des jeweiligen Projektes halten. Auch von uns wird aktiver Widerstand gefordert individuell und kollektiv: Statt die Farb- und Materialoptionen, die uns die globale Industrie anbietet, passiv hinzunehmen, sollten wir ein differenzierteres und fundiertes Verständnis von Farben und Materialien und unserer Herangehensweise an diese entwickeln.

Und genau dabei kann uns das Buch von Hella Jongerius eine große Hilfe sein.

A colour catcher, a 3D colour chart, as seen at Breathing Colour by Hella Jongerius, the Design Museum, London 28.06 –24.09 2017

Ein „Farbfänger“, eine 3D Farbkarte, gesehen bei Breathing Colour von Hella Jongerius, Design Museum, London 28.06 –24.09 2017

Das Buch beginnt mit Überlegungen zu Farbsystemen – den greifbarsten Ergebnissen der jahrhundertelangen Erforschung und Kategorisierung von Farben. Hella Jongerius geht hier weniger auf die viel zitierten Farbsysteme von Newton, Goethe oder Itten ein, sondern rückt stattdessen das selten angeführte System von Arthur Schopenhauer in den Mittelpunkt, wenn auch (keine Sorge) nur kurz. Es gibt keine eingehende Analyse von Schopenhauers Philosophie, vielmehr nutzt Hella Jongerius Arthur Schopenhauers Theorie als Sprungbrett für Überlegungen zur Wahrnehmung und Rezeption von Farben, zu Subjektivität und Variabilität unserer Farbwahrnehmungen und von dort zu den Farbschemata von Le Corbusier, Gerrit T. Rietveld, Alexander Girard, Verner Panton und Hella Jongerius.

„Bei der Entwicklung von Farbsystemen habe ich nicht das Bedürfnis, Farben zu systematisieren oder nach strengen Regeln anzuordnen“, sagt sie, nicht zuletzt, weil „das Farbfeld viel zu komplex und groß ist, um es vollständig zu erfassen. Ich schätze den Prozess des Experimentierens, das wirkliche Arbeiten mit Farbe“. Diesen Prozess des Experimentierens veranschaulicht Hella Jongerius durch kurze Erörterungen von Forschungsprojekten wie dem Daylight Wheel und den Coloured Vases. Bei letzteren kommen 100 traditionelle Mineralrezepte und 100 zeitgenössische industrielle Farbtransfers als Grundlage für rund 300 neue Farbtöne zum Einsatz. Es handelt sich außerdem um das dritte in einer Reihe von drei ähnlichen Projekten, bei denen Jongerius ihre Red White Vase von 1997 als Grundlage für weitere Forschungen verwendet hat. Bei dem ersten Projekt zeichnete Jongerius auf, wie Farben im Laufe eines Tages ihren Ton und ihren Charakter verändern, und so ein und dieselbe Farbe je nach der Tageszeit, zu der sie betrachtet wird, unterschiedlich erscheint. Jongerius demonstrierte damit die der Farbe innewohnende Vitalität, die ihr innewohnende Variabilität und die unveränderliche Subjektivität, mit der wir Farben betrachten. Und das war bereits, wie wir uns alle erinnern, ein wichtiger Bestandteil von “Breathing Colour”. Diese natürliche Vitalität, diese intrinsische Eigenschaft der Farbe ist in den zeitgenössischen Industriefarben mit ihrer erzwungenen chemischen Stabilität und Sterilität selten zu finden, weshalb Hella Jongerius diese Farben verabscheut und in diesem Zusammenhang von „Farbflachheit“ spricht. Hella Jongerius erforscht die kontextabhängige Farbrezeption, die Bedeutung der Metamerie für unsere Wahrnehmung von Farbe weiter, indem sie das Zusammenspiel von Farbe und „Volumen, Formen, harten oder weichen Kanten, glatten oder fühlbaren Oberflächen, [und] Schatten“ untersucht. Es handelt sich um eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte, von denen Jongerius sagt, dass sie „erst der Anfang meiner Farbreise sind“.

Eine Reise, die Hella Jongerius auch von der Theorie zur Praxis führt.

Dazu gehören Werke wie das bereits erwähnte Polder Sofa und Arbeiten, die nicht nur von den unterschiedlichen Farben und Texturen der niederländischen Polderlandschaften geprägt sind, sondern auch, wie wir in “I don’t have a favourite colour” erfahren, von Josef Albers‘ Behauptung, dass „es unmöglich ist, eine Farbe aus dem Gedächtnis zu reproduzieren“. Hella Jongerius führt dieses Arguments weiter und kommt zu dem Standpunkt, dass wir, da wir nicht in der Lage sind, die Farben unserer Wohnräume (die ohnehin schwanken) genau zu beschreiben, auch nicht versuchen sollten, eine (vermeintlich) perfekte Farbübereinstimmung herzustellen, wenn wir ein neues Objekt zu unserer Einrichtung hinzufügen. Das Polder-Sofa vertritt eine solche Position und bietet damit „einen Diskurs über das Offenhalten von Optionen“.

Hinzu kommen Werke wie die Hang it All Garderobe der Eames. Genauer gesagt geht es hier darum, wie Hella Jongerius das bereits erwähnte “Daylight Wheel” als Grundlage für die neuen Hang it All-Farben nutzte. Sie übertrug, wenn man so will, die Hang it All auf das Daylight Wheel und wählte jene Farben aus, die der Reihenfolge der Kugeln entsprechen. Das ermöglichte einen natürlichen Fluss der Farbtöne und verlieh der Garderobe so eine leicht verständliche Farbkomposition.

Das Buch geht auch auf die Eames-Plastiksitzschalen in drei Weißtönen ein, die später wieder vom Markt genommen wurden, nicht zuletzt, weil die feinen Unterschiede zwischen den Tönen für die große Mehrheit dann doch zu subtil waren. Jongerius bezeichnet diese Situation rückblickend als „eine wichtige Lernkurve [..] Man kann nicht erwarten, dass die Kunden ‚geschulte Augen‘ haben. Ich sollte dem Orchester nicht zu weit vorauslaufen“.

Fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Buches wird man unweigerlich auf die zahlreichen Farb- und Materialvarianten aufmerksam, die Jongerius eingeführt hat, die aber heute nicht mehr im Vitra-Portfolio zu finden sind. Tendenziell bestätigt dieser Umstand, dass Farben und Materialien, ebenso wie Formen, ihren Platz in einem kommerziellen Portfolio eher durch den Verkauf als durch Konzept und Theorie rechtfertigen müssen. Hier wird auch deutlich, wie wenig Zeit den Produkten eingeräumt wird, um diesen Platz zu rechtfertigen. Das wirft auch bei uns Verbrauchern die Frage auf, inwieweit Konventionen und Konditionierungen unsere Farbwahl beeinflussen.

Hang it All by Charles & Ray Eames through Vitra, here in the red version by Hella Jongerius

Hang it All von Charles & Ray Eames von Vitra, hier in der roten Version von Hella Jongerius

Nachdem Hella Jongerius den Leser durch ihre Recherchen und Überlegungen im Zusammenhang mit der Erstellung der Vitra Farb- und Materialbibliothek geführt hat, einschließlich der Erörterung der Rolle der Colour Wheels und der vier Farbwelten, geht sie zu spezifischen Überlegungen zum Einsatz von Farbe im Möbeldesign über. Hier lässt sie auch andere DesignerInnen zu Wort kommen: sowohl DesignerInnen, die nicht mehr unter uns weilen, wie Charles und Ray Eames, Maarten van Severen oder Jean Prouvé, als auch zeitgenössische DesignerInnen wie u. a. Barber Osgerby, Jasper Morrison oder Konstantin Grcic. Und, ja, bei allen handelt es sich um Vitra-Designer, und, ja, es geht immer um Entwürfe, die für, mit und/oder von Vitra produziert wurden. Aber schließlich ist “I don’t have a favourite colour” eben auch ein Buch über “Creating the Vitra colour & material library”.

Obwohl der Input, die Perspektiven und die Ideen der anderen Designern wichtig sind, weil sie differenzierte Blicke auf die Positionen von Jongerius und Einblicke in die Einbindung der Vitra Farb- & Materialbibliothek in die Produktentwicklungsprozesse bei Vitra ermöglichen, überspringen wir sie hier, da wir später noch einmal auf das eine oder andere zurückkommen werden. Stattdessen gehen wir zum letzten Kapitel über, das mit “Die Farbrezepte” überschrieben ist.

„Lasst uns mit dem Farbkochen beginnen“, verkündet Hella Jongerius dort. Und gerade, wenn man sich die Schürze umbinden und in der heimischen Farbküche loslegen will, stellt man fest, dass es sich bei den Rezepten in Wirklichkeit um acht Lektionen, acht Weisheiten handelt, die Hella Jongerius bei der Entwicklung der Vitra Farb- und Materialbibliothek herauskristalisiert hat und die in “ I don’t have a favourite colour” als acht Mitbringsel für uns alle präsentiert werden:

Farben sind persönlich, und deshalb „gibt es keine Fehler bei der Farbwahl“.

Farben sind einflussreiche Organisatoren in einem Raum, „sie können Räume, Wände und Möbel lebendiger, distanzierter, statischer oder dynamischer wirken lassen“.

Warme und kalte Grautöne decken eine breite Palette von Tönen ab und „sind die Grundlage einer Farbpalette“.

Unbeständigkeit ist eine Qualität: „Anstatt die Veränderlichkeit der Dinge zu leugnen oder abzuschwächen, betonen Sie sie. Die Kernqualitäten der Farbe kann man in der Natur sehen: Sie ist vielschichtig, vielfarbig, lebendig und niemals stabil.

Die meisten Menschen haben ein Gespür für die spezifischen Qualitäten der Textilien, die sie tragen. Nutzen Sie diese Intuition auch bei der Auswahl eines Möbelstoffs.

Das Material macht eine Farbe aus: „Ob die Oberfläche des Betrachters glänzend oder matt, groß oder klein ist, bestimmt, wie laut etwas schreit oder wie leise es flüstert“.

Eine Farbe ist keine Farbe, „erst wenn man Farben nebeneinander sieht, wird die wirkliche Qualität der jeweiligen Farbfläche sichtbar“.

Die Größe eines Farbflecks oder Farbfelds ist wichtig, „je kleiner ein Gegenstand ist, desto stärker kann die Farbe betont werden“.

Die acht Rezepte sollten keineswegs als fixe Definitionen betrachtet werden, schließlich ist Farbe für Hella Jongerius eben subjektiv, flüchtig und persönlich und daher wäre es nicht nur schwierig, sondern auch sinnlos, „eine Reihe von Regeln zu entwickeln, wie man Farbe verwendet oder schnelle Schlussfolgerungen zieht“. Vielmehr sollten die acht Punkte als Hilfsmittel für Ihre individuellen Überlegungen zur Farbe verstanden werden, als individuelle Zutaten für Ihr eigenes Farbrezept, als Proviant für Ihre eigene Reise durch die Farbe, eine Reise, für die es keine feste Route gibt, geschweige denn ein Ziel.

Colour Vases by Hella Jongerius and examples of her colour research, as seen at Breathing Colour by Hella Jongerius, the Design Museum, London, 28.06 –24.09 2017

Colour Vases von Hella Jongerius und Beispiele ihrer Farbforschung, gesehen bei Breathing Colour von Hella Jongerius, Design Museum, London 28.06 –24.09 2017

Auch wenn “I don’t have a favourite colour” im Zusammenhang mit Hella Jongerius‘ Arbeit bei Vitra entstanden ist und in dem Buch sehr viele Vitra-Möbel vorkommen, ist es kein Buch über Vitra. Es ist ein Buch über Hella Jongerius und ihre Überlegungen von Farben und Materialien, über Reisen, die Hella Jongerius theoretisch und praktisch mit Farben und Materialien unternommen hat. Diese Reisen hat Jongerius im Auftrag von Vitra unternommen und damit kommt es logischerweise zu regelmäßigen Erwähnungen von Vitra und Vitra-Möbeln. Trotzdem handelt es sich nicht um ein Vitra-Buch, sondern um ein Hella Jongerius-Buch, um ein Manifest von Hella Jongerius – ein Manifest der Materialien und Farben.

Wir haben uns hier auf die Farbe konzentriert, aber ein zentraler Bestandteil von “I don’t have a favourite colour” sind die Diskussionen über Materialien. Dabei geht es vor allem um gewebte Textilien, von denen man nach der Lektüre annehmen kann, dass sie Hella Jongerius‘ Lieblingsmaterial sind, und die Jongerius als „ein taktiles, flexibles Stück Farbe“ bezeichnet. Wenn auch eines, das, wie die Farben selbst, unter dem unnachgiebigen Joch der industriellen Produktion und des kommerziellen Drucks zu leiden hat.

Aus diesem Joch will Hella Jongerius Farben und Materialien befreien und ihr Buch hilft einem zu verstehen, warum das für Hella Jongerius so wichtig ist, und warum es für uns alle wichtig sein sollte. “I don’t have a favourite colour” macht deutlich warum wir alle über Farben nachdenken sollten, und vor allem, warum wir Farben nicht nur als Töne und Schattierungen betrachten sollten, sondern als Kulturgüter und als die kommerziellen, industriellen Produkte, die sie sind. Klar wird hier auch zu welch unzähligen Kompromissen und Unstimmigkeiten die damit verbundenen Widersprüche führen.

Eine der interessantesten Aussagen von Hella Jongerius ist für uns die Behauptung, dass „Farbe eine Reihe von wichtigen Lebensthemen miteinander verbindet: den ästhetischen Wert in der Kunst, die wissenschaftliche Erforschung unserer menschlichen Wahrnehmung, die philosophischen Fragen zu den Worten, mit denen wir Farben ansprechen, die soziale und kulturelle Relevanz von Farbe in unserer Gesellschaft“. Jongerius erinnert auf diese Art daran, dass Farben sich in vielerlei Hinsicht nicht von vielen anderen Waren unserer Zeit unterscheiden: Einst stammten diese Waren aus der Natur, heute aber kommen sie aus der Industrie. Auch zu Waren wie Kleidung, Lebensmitteln oder den Utensilien des täglichen Lebens hatten wir einst eine direkte, sinnliche Beziehung, die wir heute aber kaum noch beachten. Dabei handelt es sich um Waren von denen wir wissen, dass die Qualität und die Umwelt durch die industrielle Produktion leiden. Uns ist klar, dass Standardisierung und Optimierung nicht nur Vorteile bringen, sondern unsere Welt auch weniger vielfältig und lebendig machen. Obwohl wir inzwischen wissen, dass es bei Gebrauchsgegenständen, Lebensmitteln oder Kleidung auch Alternativen gibt und dass unsere Konsumgewohnheiten Auswirkungen auf das große Ganze haben, neigen wir bei den Farben dazu, den Status Quo passiv und unhinterfragt zu akzeptieren.

Wir neigen dazu, die Welten, in denen wir existieren, mit unseren konditionierten, geschulten Augen zu betrachten und nicht mit den subjektiven, intuitiven Augen eines Arthur Schopenhauer.

„Die Tatsache, dass es bei Farben keine Objektivität gibt, ist für mich ein Segen“, behauptet Hella Jongerius, „es ist ein visuelles Fachwissen, kein wissenschaftliches“, und ein Fachwissen, das, wie alle anderen auch, erlernt werden muss, um es zu beherrschen, das von seinen Grundlagen her verstanden werden muss, um sinnvoll eingesetzt werden zu können.

“I don’t have a favourite colour” kann bei dieser Ausbildung helfen.

Umso trauriger ist es, dass das Buch vergriffen ist.

Indem Jongerius’ Buch einem hilft, Farbe nicht als eine überprüfbare, systematisierbare Tatsache zu betrachten, sondern als eine instabile, variable Entität, die nur im ephemeren Wechselspiel zwischen dem Kontext der Situation, in der wir sie betrachten, und den physikalischen und neurologischen Möglichkeiten unserer optischen Systeme existiert, hilft es uns dabei, Farben als funktionale Bestandteile unserer Umwelt besser zu verstehen. Das heißt Farben sind einerseits technisch funktionale Signale und Wegweiser, die uns helfen, Raum zu ermessen und abzugrenzen; zum anderen haben sie eine emotionale Funktion, da Farben nicht nur das Licht, sondern auch den physischen und metaphysischen Kontext, in dem wir sie betrachten, widerspiegeln und dadurch aktiv zu unserer Wahrnehmung und Rezeption der uns umgebenden Welt beitragen.

Wie viel anregender, belebender und bereichernder könnte unsere Welt sein, wenn all unsere Farben sich frei entfalten dürften, wenn sie wirklich atmen dürften, denn, wie Hella Jongerius verkündet, „die Schönheit der Farben liegt in ihrer Haupteigenschaft – der Instabilität – und diese verdient es, als solche erlebt zu werden“.

The new Hopsack colours developed by Hella Jongerius for Vitra, here on Aluminium Chairs by Charles and Ray Eames. The chairs are much more stable than the colours... as it should be....

Die neuen Hopsack Farben, entwickelt von Hella Jongerius für Vitra, hie auf Aluminium Chairs von Charles and Ray Eames.

1. und alle weiteren Zitate: Hella Jongerius, I don’t have a favourite colour. Creating the Vitra colour & material library, Gestalten, Berlin, 2016

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