NeoCon Chicago 2016 Interview: Josef Kaiser, Chief Sales Officer, Vitra

Auch wenn die Geschichte von Vitra geografisch gesehen in Basel beginnt, hat sie ihren ideellen Anfang doch in Amerika und nimmt 1957 erst mit den Lizenzen für die Produkte amerikanischer Designer wie Ray und Charles Eames, George Nelson, Isamu Noguchi und Alexander Girard in der Schweiz ihren Lauf. Während der folgenden Jahrzehnte ist die Unternehmensgeschichte stark geprägt von den immer enger werdenden Kooperationen mit George Nelson sowie Ray und Charles Eames.

In Anbetracht der engen Verbindung mit und nach Amerika war es wahrscheinlich unabdingbar, dass sich Vitra früher oder später auch des amerikanischen Marktes annehmen würde, und so machte man Mitte der 1980er Jahre die ersten zaghaften Schritte in Richtung USA – auch wenn der Vertreib in Amerika ohne die Arbeiten der Eames, George Nelsons und anderer auskommen musste und muss, weil die US-amerikanischen Produktions- und Vertriebslizenzen für solche Designer heute wie damals bei Herman Miller liegen.

Dass Vitra Mitte der 1980er Jahre mit dem Handel in Amerika begann, war wohl kein Zufall: handelt es sich doch um eine Zeit, in der Vitra vermehrt eigene Produkte entwickelte, und sich so von seinen „amerikanischen“ Wurzeln emanzipierte. Außerdem war das Unternehmen damit beschäftigt eine ganz neue Sparte zu etablieren – die Büromöbel. Im Jahr 1976 war der Vitramat von Wolfgang Müller-Deisig der erste von Vitra selbst entwickelte Bürostuhl. Kurz danach folgten Persona von Mario Bellini 1979, Figura von Mario Bellini 1984 und der AC1 von Antonio Citterio im Jahr 1988; als Ergänzung zu den Bürostühlen kamen dann Tisch- und Regalsysteme wie Metropol von Bellini oder Spatio von Antonio Citterio auf den Markt. Das Forschungsprojekt und die dazugehörige Ausstellung Citizen Office im Jahr 1993 von und mit James Irvine, Ettore Sottsass, Andrea Branzi und Michele De Lucchi markieren wiederum Vitras ersten Versuch die zukünftigen Anforderungen von Büroumgebungen zu definieren und präsentierten neue Bürokonzepte und Büromöbeltypen.

Vitra trat so in den 1980er Jahren mit seinem Büromöbelprogramm in den amerikanischen Markt ein, etablierte mit diesem seinen Ruf in Amerika und, irgendwie keine große Überraschung, legt auch heute bei den Geschäften in Amerika den Schwerpunkt auf die Büromöbelsparte. Die NeoCon Chicago ist so auch eine der wichtigsten Veranstaltungen für Vitra USA.

Auf der NeoCon 2016 inszenierte Vitra gleichermaßen die Veröffentlichung des Hack Tischsystems von Konstantin Grcic und der Belleville Familie von Ronan und Erwan Bouroullec. Hinzu kam  – das zeigt auch wie nahe sich Artek und Vitra in Amerika sind – die Veröffentlichung der Kaari Collection der Bouroullecs von Artek.

Wir haben die Gelegenheit der NeoCon Chicago 2016 genutzt und uns mit Vitras CSO, also dem Vertriebsvorstand, und dem früheren Vitra USA CEO, Josef Kaiser getroffen, um über die Unterschiede der amerikanischen und europäischen Märkte, die Herausforderungen des amerikanischen Marktes für eine Firma wie Vitra, und Vitra ohne die Eames etc. … zu sprechen. Angefangen haben wir mit der Frage, wie sich die Situation in Amerika nach den ersten zaghaften Schritten für Vitra entwickelt hat.

Josef Kaiser: Als Vitra mit dem Handel in Amerika begann, war die Situation schwierig, weil es damals bei den Büromöbelsystemen nur um Cubicles, also in Zellen unterteilte Großraumbüros, ging, und das war kein Markt, mit dem wir etwas zu tun haben wollten. Der Fokus lag so in den ersten Jahren ganz und gar bei Bürostühlen. Allerdings waren wir, einmal hier, in der Lage eine aktive Rolle bei der Entwicklung weg von den Zellen hin zu offenen Bürokonzepten zu spielen, und vor allem in den letzten 5 Jahren haben sich die Dinge radikal verändert. Es gibt die Zellen nach wie vor, sie werden auch nach wie vor gebaut, aber man sieht sie beispielsweise auf Messen nicht mehr. Viel wichtiger ist zudem, dass sich die Standpunkte ändern. Sie gehen weg von der festgefahrenen Idee der Bürozelle, und das heißt für uns, dass es jetzt sehr viel einfacher ist mit Kunden über die Öffnung des Bürobereichs zu sprechen, das heißt flexible, variable Bürosysteme und ihre Auswirkungen auf die Bürokultur und die Arbeitsabläufe zu diskutieren.

smow Blog: Wenn Sie von Kunden sprechen, meinen sie direkt die Firmen, oder spielen Architekten auf dem amerikanischen Markt auch eine Rolle?

Josef Kaiser: Für uns hängt der Markt in Amerika sehr viel mehr von Architekten ab als das in Europa der Fall ist. Hier ist es häufig so, dass bei jeder Veränderung in einem Büro ein Architekt hinzugezogen wird. Das heißt, man hat grundsätzlich immer mit einem Architekten zu tun, der festlegt, was beschafft werden muss und von wem. In diesem Zusammenhang ist eine Messe wie die NeoCon nicht nur eine sehr wichtige Möglichkeit, um unsere Konzepte zu präsentieren und zu erklären – den in unseren Bürosystemen angelegten Mehrwert plausibel zu machen -, sondern auch um die Verbindungen mit Architekten aufzubauen und zu vertiefen.

smow Blog: Heißt das zuerst einmal, dass in Amerika das Händlernetzwerk für eine Firma wie Vitra weniger wichtig ist als in Europa?

Josef Kaiser: Nein, die Händler sind immer noch wichtig, aber es handelt sich um eine ganz andere Kultur. In Amerika sind die Händler häufig riesige Unternehmen, zumindest was das Projektgeschäft für den öffentlichen Bereich angeht. Es gibt also zahlreiche US-Händler, die mehrere hundert Millionen Dollar im Jahr umsetzten, und das sind Größenordnungen, die wir in Europa nicht haben. Und während Vitra in Europa eine führende Position auf diesem Markt hat, sind wir in Amerika nur einer von hundert oder mehr Anbietern. Es ist so als relativ kleiner europäischer Hersteller nicht immer einfach sich bei den amerikanischen Händlern zu etablieren.

smow Blog: Wir nehmen mal an, dass das in der Folge bedeutet, dass der Hauptunterschied zwischen NeoCon und Orgatec darin besteht, dass hier die Architekten in den Fokus rücken, während bei der Orgatec eher die Händler und die Händlernetzwerke eine Rolle spielen?

Josef Kaiser: Genau. Auch wenn wir auf der Orgatec 2016 versuchen werden interessanter für Architekten zu sein, ohne den Fokus auf die Händler zu verlieren. Das wird eine echte Herausforderung, aber eine, auf die wir uns freuen, nicht zuletzt weil wir in diesem Jahr unsere eigene Halle haben werden. Auch das unterstreicht den Unterschied der Märkte: hier haben wir 370 Quadratmeter und in Köln unsere eigene Halle.

smow Blog: Eine ganze Halle für Vitra allein?

Josef Kaiser: Wir werden dieses Jahr in Halle 5, einer ganz neuen Halle auf der Orgatec, die speziell für Vitra geöffnet wird, sein. Und nein, wir sind dort nicht ganz allein vertreten. Es wird vielmehr eine „Vitra + Freunde“-Ausstellung.

smow Blog: Hört sich ausgesprochen spannend an, aber wir nehmen an, dass Sie nicht mehr verraten werden. Insofern also zurück zu Amerika. Mal abgesehen von den unterschiedlichen Größenordnungen – wie sehen die Zahlen aus, wie groß oder wichtig ist der amerikanische Markt für Vitra?

Josef Kaiser: Im Moment macht Amerika um die 7 Prozent unseres Gesamtumsatzes aus. Das ist eine gute Größe und vor allem eine, die Potenzial für weiteres Wachstum hat. Um es mal im Kontext zu betrachten: der Markt in Amerika ist für uns sehr viel kleiner als sagen wir mal in Deutschland oder in der Schweiz. Dort haben wir mehr Kunden und mehr Umsatz als hier in Amerika. Das heißt nicht, dass Amerika ein uninteressanter Markt wäre, nur eben ein komplizierterer.

smow Blog: Und was die Aufteilung in Zuhause und Büro angeht….?

Josef Kaiser: Büromöbel machen die Mehrheit aus. In Europa verkaufen wir beispielsweise eine Menge Eames für Zuhause. Das haben wir hier natürlich nicht, was nicht nur daran liegt, dass der Markt für Möbel für den Wohnbereich hier ein ganz anderer ist, sondern auch daran, dass der Geschmack in Sachen Inneneinrichtung und Möbeldesign sich doch sehr von dem in Europa unterscheidet. Die Amerikaner neigen dazu verschiedene Dinge auf unterschiedliche Art und Weise zu kaufen, und so repräsentiert der Home-Sektor 15-20% unseres Geschäfts in Amerika. Allerdings beobachten wir auch auf dem Markt für den Wohnbereich Veränderungen. Die Zahl der Amerikaner, die sich für zeitgenössisches europäisches Design und die Einrichtungslösungen, die Vitra vorschlägt, interessieren, wächst zusehends.

smow Blog: Wir reden die ganze Zeit pauschal von Amerika – für Vitra sind die wichtigsten Märkte in Amerika wahrscheinlich die großen Zentren…?

Josef Kaiser: Nicht so ganz. Amerika ist für uns sehr interessant in küstennahen Regionen. New York ist der Hauptmarkt und dann bleibt es entlang der Ostküste interessant – nördlich in Richtung Boston genauso wie südlich Richtung Washington. Im Gegensatz dazu hat die Mitte, Chicago inbegriffen, für uns weniger Bedeutung. Hier ist der Markt sehr viel traditioneller und nicht zwangsläufig so interessiert an zeitgenössischen Designkonzepten. An der Westküste wiederum, also San Francisco, Los Angeles, aber auch weiter nördlich Seattle, Redmond und bis nach Canada und Vancouver, besteht sehr viel mehr Interesse an den beiden Sparten, die Vitra anbietet und auch an zeitgenössischem, europäischem Design.

smow blog: In Anbetracht der Städte, die Sie erwähnen, würden wir annehmen, dass die Kreativindustrie, die digitale Branche und ähnliche Zweige für Sie auch von besonderer Bedeutung sind?

Josef Kaiser: Ja, das ist durchaus der Fall. Ein besonders interessantes Beispiel ist in diesem Kontext Austin, Texas – eine relativ kleine Stadt, die allerdings enormes kreatives Potential aufweist und viele kreative Leute beherbergt, die an neuen Ideen interessiert sind und nach neuen Ideen suchen. Austin ist eine Stadt, die für uns immer interessanter wird und sehr viel mehr Potential bietet als viele größere Städte im Zentrum der USA. Allerdings haben wir auch viele Kunden in eher traditionellen Bereichen, das heißt im Bankwesen, der Pharmaindustrie, oder im Bildungsbereich, dabei vor allem im Bereich der Erwachsenenbildung. Colleges und Universitäten sind also sehr interessant für uns.

smow Blog: Sie sagten einige Male der amerikanische Markt sei eine Herausforderung. Worin bestehen die Herausforderungen für sie hier ganz konkret, an welcher Stelle unterscheidet sich das amerikanische Projektgeschäft für den öffentlichen Bereich am meisten vom europäischen?

Josef Kaiser: Ich würde sagen, es gibt drei Hauptgebiete. Erst einmal ist der Planungshorizont aufgrund der Art der Mietverträge in Amerika relativ klein, vor allem im Vergleich zu Europa. In Amerika wird ein Büro nur selten für einen Zeitraum von mehr als 7 Jahren geplant. Unsere Produkte haben aber eine sehr viel längere Lebensdauer, wir bieten also eine Qualität an, die weit über dem liegt, was tatsächlich vom amerikanischen Markt nachgefragt wird. Wir müssen also erstklassige Kunden finden, die Interesse an erstklassigen Produkt haben. Zugleich ist Amerika ein Land, um es mal ganz allgemein zu sagen, das eher dazu neigt billig zu kaufen und die Dinge eher mit einer Wegwerfmentalität angeht. Das bewegt sich zwar in Richtung Nachhaltigkeit, aber eben nur sehr langsam. Drittens gibt es die Verbindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wie wir sie in Europa kennen, nicht zwangsläufig auch in Amerika. Die Angestellten identifizieren sich nicht notwendigerweise mit einer Firma, und viele Arbeitgeber verbreiten eine „hire and fire“-Stimmung. Diese Verbindung bringt natürlich keine positiven, respektvollen Arbeitsplätze hervor. So wird über Arbeitsplätze weniger nachgedacht und Möbeln nicht viel Aufmerksamkeit beigemessen. Folglich müssen wir genau die Firmen finden und ansprechen, bei denen das Gegenteil der Fall ist, die ein Interesse daran haben eine positive Unternehmenskultur zu kreieren.

smow Blog: Wie Sie schon gesagt haben, können Sie in Amerika die Eames und andere nicht verkaufen, was heißt, dass Sie hier sehr viel mehr von europäischen Designern abhängig sind. Ergibt sich daraus eine weitere Herausforderung?

Josef Kaiser: Ja ja, natürlich. Aber für uns ist das auch eine exzellente Möglichkeit uns auf einem Markt ohne Eames und Nelson zu beweisen, und so zu zeigen, dass wir auch ohne solche Klassiker erfolgreich sein können. Die Klassiker sind wichtig und mit der Prouvé Collection haben wir eine interessante Serie, die in Amerika positiv aufgenommen wird. In ähnlicher Weise haben wir mit Artek und Alvar Aalto jetzt Designs, die sehr bekannt und beliebt sind in Amerika. Allerdings liegt unser Hauptgeschäft in Amerika bei den zeitgenössischen, europäischen Designern: die Bouroullecs sind hier beispielsweise sehr wichtig, ebenso die Produkte von Antonio Citterio oder Alberto Meda. Ich deute unseren Erfolg in Amerika also als Beweis für die Stärke des Vitra Portfolios, und vor allem als Beweis dafür, wie positiv sich das Vitra Portfolio in den letzten Jahren durch fokussierte Kooperationen mit jüngeren, europäischen Designbüros entwickelt hat.

smow Blog: Da ergibt sich eine interessante Verbindung: europäisches Design auf der einen Seite – amerikanische Produktion auf der anderen. Wir wissen, dass Vitra eine Anlage in Amerika hat, aber produziert Vitra auch tatsächlich in Amerika?

Josef Kaiser: Wir haben eine kleine Fabrik in Allentown, Pennsylvania, wo wir einerseits letzte Montagearbeiten durchführen und zudem lokale Rohstoffe beschaffen. Das Ziel ist dabei, 80 Prozent unseres Portfolios entweder in Amerika fertigzustellen, oder die Rohmaterialien hier zu beziehen. Produkte, die spezielle Herstellungsverfahren benötigen oder, die wir einfach nicht in relevanter Quantität verkaufen, werden aus Europa importiert.

smow Blog: Fragt sich natürlich, warum?

Josef Kaiser: Grundsätzlich geht es dabei um Flexibilität, Lieferzeiten sind eine sehr wichtige Sache in Amerika, und das heißt grundsätzlich kurze Lieferzeiten. Wenn man aber nur aus Europa importiert wird das sehr kompliziert. Lokale Produktion und der Bezug von Rohstoffen vor Ort sind also wichtig, um auf die Wünsche der Kunden reagieren zu können.

smow Blog: Aus unserer europäischen Perspektive lässt ja schnell von amerikanischem Patriotismus sprechen. Man könnte annehmen, dass die Amerikaner auch „made in America“ bevorzugen? oder schätzt man hier die europäische Produktion und die europäische Qualität?

Josef Kaiser: Beides trifft zu. Es gibt Kunden, die wollen europäisches Design und die Qualität europäischer Produktion. Dann aber, und das betrifft vor allem das Amerika der Unternehmen, gibt es zunehmend interne Richtlinien, die festlegen dass „Amerikaner amerikanisch kaufen“. Wir können glücklicherweise auf die Ansprüche beider Gruppen reagieren.

smow Blog: Wir würden sagen der Stand auf der NeoCon ist für eine Ausstellungsfläche von Vitra ziemlich stark durch Artek geprägt und wir nehmen mal an, dass es sich dabei nicht um die Kostümprobe für „Vitra + Friends“ handelt… Warum dann nicht zwei Stände, sondern die Zusammenlegung?

Josef Kaiser: In Europa trennen wir die Marken sehr viel absichtsvoller und deutlicher als in Amerika. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es der Charakter des amerikanischen Marktes mit sich bringt, dass es sehr viel komplizierter ist zwei Marken unabhängig voneinander zu promoten – selbst in Anbetracht der Tradition und Stärke von Marken wie Vitra und Artek. Folglich war es für uns eine logische Entscheidung Artek unter dem Vitra Label zu präsentieren. Letztlich hilft so eine Präsentation dabei, unsere Idee davon, wie man Produkte, die der Vitra Philosophie unterliegen miteinander mischen, collagieren und integrieren kann, zu erklären. Die Dinge ändern sich jetzt allerdings wieder und so haben wir beispielsweise in unserem New Yorker Showroom begonnen Artek eher als alleinstehende Marke zu präsentieren. Ich denke, wir werden in der Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach, beide Marken unabhängig voneinander auf solchen Messen präsentieren.

Tagged with: , , , , , ,